Das große Los: Wie ich bei Günther Jauch eine halbe Million gewann und einfach losfuhr (German Edition)
mehr das Fremde-im-Zug-Prinzip, das mir schon öfter in diesem Jahr begegnet ist: Wildfremden vertraut man sich oft rückhaltloser an als selbst engsten Freunden– es hat ja keine Konsequenzen, man sieht sich in der Regel nie wieder. Hinzu kommt: Handarbeit ist ein großer Seelenöffner, sie leert den Kopf, und mit den Händen kommen auch die Gedanken in Bewegung.
Worüber ich bei solchen Gelegenheiten nachdenke: Wie geht es weiter mit mir nach diesem Jahr? Es ist natürlich noch viel zu früh, sich damit zu beschäftigen, aber mir wird immer klarer: einfach so zurück ins alte Leben, das geht nicht mehr. Das Wegsein verändert mich. Nicht fundamental, das nicht, aber es räumt auf in meinem Leben. Es sortiert mich.
Umzüge haben eine ähnliche Wirkung: Man nimmt alles einmal in die Hand, überlegt, ob man damit weiterleben will, wirft die Hälfte weg und packt den Rest in die Kisten. Also: Was will ich beibehalten, was möchte ich verändern? Könnte ich mir zum Beispiel vorstellen, wegzugehen aus Deutschland? Zum jetzigen Zeitpunkt, nach den bisherigen Erfahrungen: ja. Kann ich mir vorstellen, absolut. Bestimmt nicht gleich und bestimmt nie ganz. Aber denkbar wäre, meine Zeit zwischen Deutschland und dem Ausland zu teilen.
Während ich stickte, kam ich ins Träumen: Vielleicht jedes Jahr drei Monate woanders leben? Melbourne würde ich zum Beispiel gern mal probieren. Oder Montreal. Dass es geht, merke ich ja. Ich brauche nur ein Laptop und ein WLAN , damit kann ich überall arbeiten. Ob ich meine Kolumnen in Hamburg oder Honolulu schreibe, ist wurscht– mit dem Unterschied, dass ich sie in Honolulu sogar schneller schreibe, denn draußen lockt der Strand und nicht deutsches Matschwetter.
Das hieße nicht, dass ich Deutschland ganz den Rücken kehren wollte. Dazu ist es mir dann doch zu lieb, wie ich hier draußen feststelle. Aber wenn mir eins klar geworden ist, dann das: Wir denken viel zu oft in E ntweder/oder , viel zu selten in Sowohl/als auch . Man muss nicht alles Alte aufgeben, um etwas Neues ins Leben zu lassen.
Als ich jünger und dümmer war, habe ich mich oft geärgert, dass ich nur ein einziges Leben habe– Dir geht es ähnlich, das weiß ich, wir haben in San Francisco darüber gesprochen. All die vielen Dinge, die ich machen und sein wollte, die Berufe, die mich interessiert hätten! Jede Entscheidung kam mir wie eine Beschränkung vor, nie schien mir das, was ich gerade tat, gut genug, Erfüllung genug. Bis ich irgendwann feststellte: Nicht nur lässt es sich wunderbar mit meinem Beruf verbinden, kleine Selbstversuche zu machen, es ist auch der perfekte Weg, um möglichst viele Lebensformen auszuprobieren.
Und so begann es. Für meine Reportagen habe ich mich als angebliche Millionärin per Kontaktanzeige auf Männersuche begeben und mich bei Schönheitschirurgen als jemand ausgegeben, der alles mit sich machen lassen würde. Ich habe mich in drei Monaten zum New Yorker Marathon trainiert, nur um zu sehen, ob ich es schaffe. Ich habe einen Monat vom Sozialhilfesatz gelebt: Mein Leben wurde beklemmend eng in diesen Wochen und ich wurde dankbarer für das, was ich habe. Ein Jahr lang habe ich jeden Tag das gleiche blaue Kleid getragen, ein Spiel um Reduktion (was brauche ich wirklich?) und Kreativität (was kann ich daraus machen?). Gleichzeitig habe ich mich jeden Tag von einem Ding aus meinem Besitz getrennt, ein bewusster Abschied von all dem Ballast, den ich mit mir herumgeschleppt habe.
Die Projekte wurden immer größer und dauerten immer länger– und wurden dadurch auch immer freudvoller und erkenntnisreicher. Ich habe einfach über Jahre meinen » Das mache ich jetzt einfach mal«-Muskel aufgebaut, den, davon bin ich fest überzeugt, jeder hat. Der verkümmert nur leider oft im Alltag, den muss man trainieren. Sich erst kleine Sachen trauen, dann größere, dann Weltreisen– immer im Wissen, dass einem nicht das Geringste passieren kann. Oder doch: nur Gutes.
Anders als Du, der Du Dich als rastlosen, getriebenen, unzufriedenen Menschen bezeichnest, fühle ich mich völlig glücklich in dieser Freiheit des Herumprobierens. Ich darf alles, ich kann in alle Rollen schlüpfen, mich an diesem riesigen Buffet namens Welt bedienen– herrlich! Ich habe Leute nie verstanden, die sich über ihr langweiliges Leben beschweren, wenn sie doch problemlos jeden Tag alles ändern dürfen: ein Schokocroissant zum Frühstück essen statt des üblichen Brötchens, einen anderen Weg zur Arbeit
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