Das große Los
Ein paar engere Kollegen waren zu einem letzten Umtrunk in die ›Brasserie Dauphine‹ mitgegangen.
»Soll ich dir ein Taxi rufen?« hatte sich Émile Berna, sein Nachfolger, erboten.
»Ich bin jetzt zwar Rentner, aber so verwöhnt nun doch wieder nicht«, hatte er abgelehnt.
Zum Quai de la Tournelle waren es nur ein paar Schritte. Seine Kollegen hatten nicht die gleiche Richtung gehabt. Er war losmarschiert, die Pfeife zwischen den Zähnen, in seinem gemessenen Schritt, wie ein Metronom.
Und da, zwischen dem Quai des Orfèvres und dem Quai de la Tournelle, sollte er von einer Kugel getroffen werden, ohne zu wissen, wer geschossen hatte.
Man ging davon aus, daß der Schütze in einem Auto gesessen hatte, war aber nicht sicher. Der Quai war menschenleer gewesen, es dunkelte gerade, Autobusse rumpelten über den Pont Saint-Michel.
»Siehst du, manchmal schießen sie doch auf Polizisten!«
Worauf er jedesmal mit verquerer Logik antwortete:
»Da war ich doch schon ein paar Stunden nicht mehr Polizist.«
Das Rätsel war nie aufgeklärt worden. Hatte Duclos womöglich von seinem Rollstuhl aus versucht, es zu lösen? Berna kam ihn häufig besuchen. Bestimmt war davon die Rede gewesen. Aber von sich aus kam der ehemalige Kommissar nie darauf zu sprechen.
Durfte sie ihn da mit diesem komischen Gesellen alleinlassen, der direkt aus der Vergangenheit aufgetaucht war?
»Du kannst ruhig gehen.«
Und mit einem leichten Kräuseln der Lippen, das ein Lächeln an die Adresse seines Besuchers sein sollte, setzte er hinzu:
»Nur keine Angst.«
Jetzt konnte sie nicht mehr zurück. Sie setzte ihr Hütchen auf, holte ihr Einkaufsnetz, das Portemonnaie, und die beiden Männer schwiegen noch immer.
Auf der Treppe packte sie die Neugier, und sie ging nicht gleich hinunter auf die Straße, sondern trat vorher im dritten Stock bei ihrer Freundin Juliette ein.
»Tust du mir einen Gefallen?«
Es hatte sich so eingebürgert, Lili weihte Juliette, die Heimarbeitsschneiderin, derart in alle ihre Geheimnisse ein, daß beide unwillkürlich lachen mußten.
»Ich soll die Ohren spitzen, damit ich höre, wenn er was braucht?«
»Nein. Nimm mein Einkaufsnetz, das Geld. Kauf was zum Mittagessen und zum Abendessen ein. Was du willst, bloß kein Kalbfleisch. Vergiß Eier, Butter und Brot nicht. Du weißt ja, was wir so brauchen. Wenn du mich beim Heimkommen nicht hier antriffst, mach dir keine Sorgen und behalt die Sachen hier, bis ich wieder da bin.«
Juliette setzte keinen Hut auf. Sie trug nie einen, und gelegentlich machte sie ihre Einkäufe sogar in Pantoffeln.
Nachdem ihre Freundin gegangen war, ließ Lili die Tür angelehnt und lauerte auf Schritte im Treppenhaus. Sie mußte gute zwanzig Minuten warten. Schließlich ging ein Stockwerk höher die Tür auf und klappte wieder zu. Der Fremde kam herunter, mit seinem schleppenden Gang, als habe er ein steifes Bein. Lili wartete nicht, bis er unten war, bevor sie ihm nachging, weil sie keine Ahnung hatte, in welche Richtung er wollte, und kurz darauf sah sie ihn im Sonnenschein auf den Pont Sully zuhinken.
Zum Glück drehte er sich nicht um. Er zog immer noch sein Bein nach, ging aber schneller, als sie erwartet hatte, wie einer, der genau weiß, wo er hin will.
Er blieb auf der gleichen Straßenseite, drückte sich die Hauswände entlang, außer wenn er die Terrasse eines Straßencafés oder einer Brasserie umrunden mußte.
Jetzt wirkte er nicht mehr so furchterregend. Im Menschengewühl auf der Straße begriff sie nicht mehr, warum ihr so mulmig gewesen war, und ein paarmal war sie drauf und dran umzukehren.
Dann dachte sie plötzlich, Duclos könnte nach ihrem Weggang umgebracht worden sein. Wäre das möglich gewesen, ohne daß sie es ein Stockwerk tiefer gehört hätte?
Ihre Nervosität kehrte zurück. Sie hatte gute Lust, umzukehren und sich zu vergewissern, daß ihr Adoptivvater noch am Leben war.
Einen Augenblick später sagte sie sich, daß sie die Spur des Mannes gewiß nie wiederfinden würde, wenn sie jetzt aufgab, und nie rauskriegen würde, wer er war.
Es war seltsam, denn die Straßen waren heiter, voller Leben, und ihre Angst schien unbegründet.
Kurz vor der Brücke trat der Mann in eine Bar, und sie verhielt vor einem Antiquariat. Zum Glück war es kein Eßlokal. Wahrscheinlich würde er dort nur im Stehen einen kippen, denn in solchen Bistros hält man sich normalerweise nicht lange auf.
Ein paar Minuten später kam er tatsächlich heraus und wischte sich
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