Das große Los
den Mund ab. Er ging über die Straße, machte ein paar Schritte auf die Brücke, und was dann kam, passierte so schnell, daß Lili buchstäblich nicht dazu kam, etwas zu beobachten.
Von der Gare d’Austerlitz herüber heulten Sirenen zu Mittag. Andere fielen von der Gare de Lyon her ein, und genau in diesem Moment, mitten in diesem Krach, war da noch ein Geräusch wie eine Fehlzündung, oder als sei ein Reifen geplatzt.
Ein Auto aus der Gegenrichtung, dunkel lackiert: schwarz oder blau. Sie hätte nicht mal sagen können, ob eine oder mehrere Personen darin gesessen hatten.
Und der Mann stürzte mit ausgestreckten Armen auf das Trottoir, ohne Schrei, ohne Seufzer, während das Auto gleichsam einen Satz nach vorn machte und im Verkehrsgewühl des Boulevard Saint-Germain verschwand.
Sie war sich vermutlich als einzige darüber im klaren, was geschehen war. Eine Frau mittleren Alters blieb bei dem reglos Daliegenden stehen, beugte sich hinunter, tippte ihn auf die Schulter, fuhr entsetzt zurück und fing an zu schreien. Ein Polizist auf der anderen Brückenseite stieß in seine Trillerpfeife, ohne recht zu wissen, warum.
Lilis erste Regung war, zu ihm hinzustürzen. Doch da kam von der anderen Seite schon der Polizist gerannt. Sie fürchtete, als Zeugin geladen zu werden, und beschleunigte den Schritt wie jemand, der es sehr eilig hat, erreichte das gegenüberliegende Trottoir. Rasch ging sie weiter den Quai de Béthune entlang und kehrte über den Pont de la Tournelle, von dem aus sie den Kopf ihres Vaters am Fenster sehen konnte, über die Seine zurück. Ob er ihr rotes Hütchen aus der Ferne erkannt hatte? Um diese Zeit war er bestimmt mit Zeitunglesen beschäftigt.
Atemlos trat sie bei Juliette ein.
»Schon wieder da?« staunte diese.
»Was hast du eingekauft?«
»Schweinskoteletts zu mittag und für heut abend Zunge.« Lili mußte ein Glas kaltes Wasser trinken. Ihr zitterten die Knie.
»Du bist ja leichenblaß.«
»Mit Grund.«
»Du weißt ja, ich frag’ dich nichts.«
»Nein …«, antwortete sie zerstreut, nahm das volle Einkaufsnetz und stieg die Treppe hinauf.
Sie hatte beschlossen, kein Wort zu sagen. Gegen zwei würde Justin Duclos aus den Nachmittagszeitungen von dem Mord erfahren, sofern er nicht demnächst wie so häufig vom Quai des Orfèvres angerufen wurde oder der dicke Émile Berna hereinschaute.
»Schweinskoteletts!« verkündete sie, um die Sache zu überspielen. »Und heut abend gibt’s Zunge.«
Manchmal fuchste sie seine Ruhe, daß er einfach nie was fragte. So behandelte er alle. Berna, den er damit bisweilen auf die Palme trieb, konnte ein Lied davon singen. Man hätte meinen können, Duclos brauche sich nie was erzählen zu lassen, weil er immer alles schon wußte.
Die Zeitungen waren um ihn herum verstreut. Er rauchte Pfeife und sagte nicht Piep.
Bei Tisch aber konnte sie nicht mehr an sich halten.
»Ein anständiger Kerl, dieser Camus?« fragte sie und mied dabei seinen Blick.
»Kommt darauf an, was man darunter versteht.«
Im Nebel stochernd, hakte sie nach:
»Man könnte meinen, er sei im Gefängnis gewesen.«
»Nein, da nicht«, korrigierte er sanft.
Und, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt:
»In der Strafkolonie! Zwanzig Jahre.«
Sie war verblüfft, daß er sowas freiwillig rausließ, und wollte die Stimmung nutzen.
»Hat er einen umgebracht?«
»Er ist dafür verurteilt worden.«
Sie traute sich nicht, weiterzufragen, warum Camus, nach Frankreich zurückgekehrt, den ehemaligen Kommissar aufgesucht hatte. Plötzlich fiel ihr etwas auf, und ihr wurde siedendheiß.
Der Mann war zwanzig Jahre in der Strafkolonie gewesen. Zwanzig Jahre waren es aber auch her, daß Duclos sie bei sich aufgenommen und adoptiert hatte, nachdem er ihren Vater aufs Schafott geschickt hatte.
Hatte Camus’ Besuch womöglich was mit der Sache zu tun?
Ihr Vater hatte Joseph Vallé geheißen. Noch als ganz junges Mädchen war sie hingegangen und hatte den Fall im Archiv einer großen Morgenzeitung nachgelesen.
Eine alte Kurzwarenhändlerin aus der Rue Picpus war erschlagen worden, und nach Zeugenaussagen waren drei Männer beteiligt gewesen. Gefaßt worden waren aber nur zwei. Beide bestritten, zugeschlagen zu haben (ein brutaler Mord mit einem alten Bleirohr) und beschuldigten einen gewissen René, den sie nur mit Vornamen zu kennen behaupteten.
Man hatte ihnen keinen Glauben geschenkt. Der Generalstaatsanwalt war hart geblieben und hatte die beiden in der
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