Das grosse Maerchenbuch - 300 Maerchen zum Traeumen
wolle zu ihr, da er viel mit ihr zu sprechen habe und wolle gegen Abend kommen. Sie ließ ihm wieder sagen, er könne kommen, jedoch nicht zu einer andern Zeit, als zwei Stunden vor Mittag und sechs Stunden nach Mittag. Es dauerte nicht lange, da war er schon im Schlosse, trat mit heimtückischer Freude in ihr Zimmer und sprach: „Vor Zeiten habet ihr meine Hand verschmäht, um euch mit einem armen Königssohn zu versprechen und den zum Gemahl zu nehmen. Der sitzt jetzt als Hund unter meinem Tische bei den andern Hunden und frisst die Brocken, welche herunter fallen. Ich habe euch aber immer noch lieb und frage euch, ob ihr jetzt meine Frau werden wollt und die mächtigste Fürstin auf der Welt. Bedenket, dass ihr ein solches Glück euer Leben lang nicht wieder findet, denn ihr bekommt die größten Schätze, die je Augen sahen und es ist kein Wunsch, der euch nicht sofort erfüllt würde.“ Die Prinzessin meinte vor Schmerz zu vergehen, als sie hörte, wie der Sultan von ihrem lieben Manne sprach, und welch ein schreckliches Loos demselben zu Teil gefallen war. Sie fasste sich jedoch und sagte: „Eure Gemahlin kann ich nie werden und wäret ihr selbst Kaiser der ganzen Welt,“ und sie ging schnell in ihr Kämmerlein und ließ ihn stehn. Dort weinte sie sich recht aus, dann aber warf sie sich auf ihre Kniee nieder und betete zu Gott, er möge ihr Kraft und Mut in ihren Leiden geben und ihr Vorhaben segnen, damit sie ihren lieben Gemahl aus seiner schmählichen Gefangenschaft befreie. Gott erhörte ihr Gebet und stärkte sie so wunderbar, dass sie sich stark fühlte, Alles zu wagen und zu unternehmen.
Vor der Stadt lag eine Kapelle und ein Häuschen, da kehrten die Pilger ein, welche nach Jerusalem gingen. Dahin schickte sie ihre treueste Dienerin und ließ einem der Pilger seine Kleider abkaufen. Diese zog sie an, nahm ihre Harfe, welche sie meisterlich spielte, und ging Abends an den Strand, wo des Sultans Schiffe lagen. Da setzte sie sich hin, schlug ihre Harfe und sang:
›Was fehlet dir, mein Herz,
dass du in mir so schlägest?
Wie kommt es, dass du dich
So heftig in mir regest?
Du störst bei finstrer Nacht
Mir alle meine Ruh,
Am Tag, bei finstrer Nacht.‹
Der Sultan, welcher grade auf seinem Schiffe stand, horchte auf und ließ den Harfner zu sich rufen, sprach: „Wie kommst du zu diesen Liedern?“ „Das sind so meine Träume,“ antwortete der Harfner und sang weiter:
›Es schlagen über mich
Die Unglückswellen her,
Ich schweb in Todesangst
Auf einem wilden Meer,
Die stört bei finstrer Nacht
Mir alle meine Ruh,
Am Tag, bei finstrer Nacht.‹
Dann fuhr er fort und sang in schönen Versen Alles, was dem Sultan mit der Prinzessin begegnet war. Da frug der Sultan abermals: „Wie kommst du zu diesen Liedern?“ „Das sind so meine Träume,“ sprach der Harfner. Da rief der Sultan erstaunt: „Du musst mit mir ziehen, magst du dafür fordern, was du willst.“ „Hier kann ich nichts fordern,“ sprach der Harfner. „Ich will aber mit euch ziehen und ein Jahr bei euch bleiben. Wenn es mir dann bei euch gefällt, bleibe ich, gefällt es mir nicht, so gehe ich, doch müsst ihr mir zuvor schwören, dass ihr mir drei Wünsche erfüllen und mich ziehen lassen wollt.“ Da sprach der Sultan: „Ich gebe dir Alles, was dein Herz begehrt, das schwöre ich dir beim Feuer und meinem Bart,“ und das ist der höchste Schwur, den die Türken tun. So blieb der Harfner auf dem Schiffe und fuhr am folgenden Tage frühmorgens mit dem Sultan ab. Dieser gewann ihn immer lieber wegen seiner wunderschönen Lieder, so dass der Harfner ihn endlich, wie man zu sagen pflegt, um einen Finger wickeln konnte und nichts begehrte, was nicht sogleich erfüllt worden wäre.
Als sie in dem Schlosse des Sultans ankamen, musste der Harfner gleich am folgenden Tage bei der Tafel spielen und alle Gäste waren darüber außer sich vor Entzücken, nur nicht des Sultans Mutter, ein böses altes Heidenweib, welche stets nur Ränke und Böses sann und spann. Diese zankte fortwährend, wozu das Geleier diene und sie könne den Singsang nicht ausstehen, aber Niemand hörte auf sie und Alle wurden von Stunde zu Stunde lustiger. Als die Tafel fast zu Ende war, öffneten sich die Türen und da kamen die Hunde und mit ihnen die beiden Prinzen herein, der Jüngere in seinem schneeweißen Gewand und sein armer Bruder. „Das sind Alles meine Hunde“ sprach der Sultan und warf den Prinzen ein paar Brocken zu; doch da sprangen die
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