Das grosse Maerchenbuch - 300 Maerchen zum Traeumen
recht, denn nun konnte er ungestört jeden Tag die schöne Königstochter sehen. Es verhielt sich aber also mit ihr. Als die Sultanin ihres Kindes so schmählich beraubt worden war, verlor sie alle Lust am Regieren und übergab das Land dem Bruder ihres Mannes, welcher eine schöne Tochter hatte. Diese erzog sie und lehrte sie alle schönen Künste, Tanz und Musik und Gesang; das war aber die Jungfrau, welche der Jüngling gerettet hatte.
Jeden Tag zog er nun auf den Fischfang aus und brachte die schönsten Fische in den Schlossgarten, wo die Dienerinnen der Prinzessin sie ihm abnahmen. Während sie dieselben ins Schloss trugen, saß er bei der Königstochter. Sie erzählten sich Anfangs nur ihre Geschichte, bald aber erzählte ihr der Jüngling auch, wie er sie vom ersten Augenblick, wo er sie gesehen, in sein Herz geschlossen habe und so liebe, dass er ohne sie nicht leben könne. Da gestand sie ihm, dass auch sie ihn über Alles liebe und also waren sie ein Herz und eine Seele. Die Dienerinnen merkten wohl, was vorging, doch sie verriethen es nicht, weil sie die Prinzessin und den schönen Jüngling zu lieb hatten, als dass sie Beide hätten unglücklich machen sollen. Da kam aber eines Morgens die Sultanin daher gegangen, um zu sehen, wo die Prinzessin sei und da die Beiden so in ihr Gespräch vertieft waren, dass sie nichts hörten und sahen, so konnte sie ungestört Alles abhorchen. Plötzlich stand sie vor ihnen, so dass der arme Jüngling nicht mehr entfliehen konnte. Sie hielt ihn fest, und winkte den Schildwachen, welche auf den Mauern standen; diese stürzten hinzu und führten ihn mit der Prinzessin in ein Gefängnis, jedes in seine eigne Zelle.
Am dritten Tage nachher war das Verhör. Zuerst wurde der Jüngling vor das Gericht geführt und die Sultanin saß selber dabei. Er solle vor Allem sagen, wer er sei, da fing er an, seine Geschichte zu erzählen, wie er in einem schönen Kästchen auf dem Grabe der Frau des Kaufmannes gefunden worden sei. Das Tuch worein er gewickelt gewesen war trug er seit seiner ersten Jugend stets auf der Brust bei sich; das zog er nun heraus und sprach: „Dieses Tuch war meine Windel und das ist neben der goldnen Blume der Prinzessin mein kostbarstes Gut.“ Als er aber in seiner Erzählung fortfahren wollte, schrie die Sultanin plötzlich: „Schweige und lass mich einmal das Tuch sehen.“ Da gab er ihr dasselbe und kaum hatte sie es näher betrachtet, da erkannte sie ihrer eignen Hände Arbeit, stürzte auf den Jüngling zu und rief: „Ach mein liebster Sohn, du bist ja mein liebster Sohn!“ Der Jüngling wusste nicht, was er dazu sagen sollte, da befahl sie den Richtern nach Hause zu gehn und nahm den Jüngling mit sich in ihren Pallast. Sogleich musste die Hebamme herbei; als die Sultanin sie bedrohte, bekannte sie, dass sie das Kind dem Mädchen gegeben habe. Da wurde auch das Mädchen geholt und bedroht, und es bekannte, dass es das Kind ins Wasser hätte werfen sollen, aber statt dessen es in ein feines Tuch gewickelt in ein Kästchen gelegt und auf ein frisches Grab gestellt hätte. Statt des Jünglings wurde nun der böse Minister in das Gefängnis geworfen, die Jungfrau aber aus demselben erlöst und noch am selben Morgen die Verlobung gehalten. Dann kehrte der Jüngling in einem großen und prächtigen Schiffe zu der Insel zurück und holte seinen Pflegevater ab, welcher sofort die Stelle des ersten Ministers erhielt, der alte Minister aber wurde enthauptet. Der Bruder des verstorbenen Sultans entsagte nun freiwillig der Regierung und statt seiner bestieg der Jüngling den Thron.
Die fünf Fragen
Ein armer Hirte hatte einen einzigen Sohn und kein Kind außer ihm, da war es kein Wunder, dass der Knabe verzogen wurde. Alles was er nur wollte, geschah und so wuchs er ganz ins Wilde hinein, tat nichts und lernte nichts. Als er zwölf Jahre alt war, wurde ihm das einsame Leben auf dem Felde zu langweilig und er sprach: „Ich gehe betteln, da verdiene ich auch mein Brot und komme zugleich in der Welt herum.“ Was wollten die Eltern da machen? Sie mussten ihn eben gehen lassen. Er bettelte sich durch bis in eine große Stadt, da setzte er sich vor der Thür eines reichen Kaufmannes nieder, zog ein Stück Brot aus dem Sack und biß so lustig hinein, als ob die ganze Stadt sein wäre und er vorm besten Braten von der Welt säße. Zufällig kam der Kaufmann eben nach Hause und der Knabe gefiel ihm so wohl, dass er ihn zu sich nahm und ihn in die Schule
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