Das große Wawuschel-Buch
zeigten den späten Nachmittagan. Tiefe Stille lag über dem Wald, kein Vogel zwitscherte. Nur die Blätter raschelten und hin und wieder knackte es im Unterholz.
»Es wird bald dunkel«, flüsterte Wischel, denn plötzlich hatte sie keinen Mut mehr, laut zu sprechen. »Es wird bald dunkel und wir sind in einem fremden Wald.«
Sie flüsterte es mit einem Bibbern in der Stimme. Alles sah so unheimlich und fremd aus. Daheim im Wawuschelwald gab es keinen Baum, keinen Busch, den sie nicht kannte. Sie wusste, welche Wege die Rehe zogen und wo Füchse und Kaninchen ihre Baue hatten. Im Wawuschelwald fühlte sie sich sicher. Dort konnte einem höchstens etwas passieren, wenn man unter die Füße eines Menschen geriet oder in eine Fuchsfalle oder wenn man sich so unvernünftig benahm wie Wuschel bei den Schienen. Aber hier, in dieser wildfremden Gegend …
»Womöglich gibt es hier Zazischels«, flüsterte sie dem Drachen zu, »oder« – und jetzt fing sie an, heftig zu zittern – »oder der Mamoffel hat sich irgendwo versteckt. Oder es gibt – es gibt hier – viele Mamoffels.«
»Nein, nein«, wollte der Drache tröstend fauchen. »Viele Mamoffels gibt es auf keinen Fall. Der Mamoffel hat doch damals im Berg selbst gesagt, dass er der allerletzte Mamoffel ist. Und Zazischels gibt es auch nicht, die wohnen am See bei ihren Fischen.«
Das alles wollte der freundliche Drache erzählen, um Wischel wieder Mut zu machen. Aber er kam nicht dazu. Denn plötzlich schrie Wischel auf. »Huu!«, schrie sie,oder »haaa!« – ganz genau konnte man es nicht unterscheiden. Dann war sie verschwunden. Fort. Einfach fort.
Dem Drachen blieb vor Schreck die Spucke weg, in allen drei Mäulern gleichzeitig.
»Wischel!«, fauchte er, so laut es nur ging. »Wischel! Wo bist du? Was ist passiert?«
Er schnüffelte am Boden entlang, und weil er sechs Augen hatte, entdeckte er bald das kleine Loch in der Erde: größer als ein Mauseloch, kleiner als ein Kaninchenloch, zu klein für einen Drachen, aber gerade die richtige Größe für ein Wawuschelmädchen.
Der Drache hielt ein Ohr an das Loch. Ihm war, als höre er tief unten Gemurmel. Konnte das Wischel sein? War sie etwa in das Loch gefallen?
»Wiii-hi-hi-schel!«, wimmerte der Drache kummervoll. »Wi-hi-hi-schel!«
Es kam keine Antwort. Ob er sich geirrt hatte? Der arme Drache mit dem freundlichen Herzen legte sich platt auf den Bauch und war sehr unglücklich.
Dabei hatte er sich keineswegs geirrt. Wie auf einer Rutschbahn war Wischel durch das Loch in die Tiefe gesaust, kaum dass sie noch »huuu!« schreien konnte. Sie hatte die Augen fest zugekniffen und wagte nicht, sie wieder aufzumachen. Wo, in aller Welt, war sie gelandet?
Zuerst blieb es still. Dann fing es an zu trippeln und zu trappeln, von allen Seiten. Wischel kniff die Augen noch fester zu. Ihre Zähne klapperten so laut, dass es beinahe das Trippeln und Trappeln übertönte. Sie dachte an die Zazischels, sie dachte an den Mamoffel, sie dachte an dieMenschenhöhle und an alles Schreckliche, das sie schon erlebt hatte. Was stand ihr jetzt bevor?
Plötzlich berührte jemand ihren Arm. Eine tiefe Stimme sagte:
»Wos ost dos for on soltsomes Geschopf mot lochtenden Hooren? Worom kloppert os mot don Zohnen?«
Diese Sprache hatte Wischel noch nie gehört. Aber weil sie die Sprache der Zazischels und die Mamoffelsprache kannte, verstand sie auch hier beinahe jedes Wort.
»Was ist das für ein seltsames Geschöpf mit leuchtenden Haaren?«, hatte die tiefe Stimme gesagt. »Warum klappert es mit den Zähnen?«
Es klang nicht unfreundlich, im Gegenteil, es hörte sich ganz gemütlich an. Vorsichtig machte Wischel ein Auge auf. Was sie sah, war so merkwürdig, dass sie auch das zweite öffnete.
Wischel stand in einer stockfinsteren Höhle. Das Einzige, was ein wenig Helligkeit verbreitete, waren die grünen Wawuschelhaare. In ihrem Schein sah Wischel die merkwürdigsten Gestalten. Dunkelbraun waren sie und jede bestand aus zwei Kugeln: eine größere Kugel als Körper, eine kleine Kugel darauf als Kopf und das Ganze verziert mit Armen und Beinen, mit Augen, Mund und Ohren. Die Kugelleute sahen aus, als seien sie aus Kartoffeln zusammengebastelt. Aber Wischel kannte keine Kartoffeln, deshalb fiel ihr dieser Vergleich nicht ein. Sie fand die Gestalten nur so putzig, dass ihr alle Angst verging.
Was die Gestalten betraf, so schienen sie Wischel ebenfalls putzig zu finden.
»Wo komosch soht so os!«,
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