Das große Wawuschel-Buch
Kekse etwas Böses getan hätten! Nicht einmal die dicke Frau wollte ihm ja etwas Böses tun. Sie wusste nur nichts von Wawuschels, und die Wawuschels wussten zwar, dass es Menschen gab, aber viel mehr von ihnen wussten sie nicht.
Und wenn man nichts voneinander weiß, tut man leider meistens das Falsche.
Die dicke Frau trug Wuschel in ihrer karierten Tasche zur Sperre. Dort stellte sie die Tasche auf die Erde, um in einer anderen Tasche nach ihrer Fahrkarte zu suchen. Das war eine günstige Gelegenheit! Vorsichtig steckte Wuschel den Kopf aus der Tasche, vorsichtig stieg er mit einem Bein heraus, blickte nach rechts, nach links – dann lief er mit einem Sprung auf und davon. Niemand sah ihn zwischen den Koffern, Schachteln, Gepäckwagen und Zeitungsständen verschwinden, nur der Hund an seiner Leine jaulte laut. Aber die Frau sagte ärgerlich: »Sei still, Waldi«, und suchte weiter. Unbemerkt konnte Wuschel bis zur nächsten Mauer rennen und sich dort in einer Nische verstecken.
»So«, dachte er, »jetzt warte ich hier, bis es dunkel ist, und dann laufe ich einfach wieder an den Schienen entlang nach Hause zurück. Irgendwann komme ich schon wieder heim.«
Das dachte Wuschel. Und es wäre auch so gekommen, wenn nicht – ja, wenn nicht doch jemand beobachtet hätte, wie er sich in der Mauernische versteckt hatte. Und wenn dieser Jemand nicht zufällig jemand gewesen wäre, der einen Wawuschel wunderbar gebrauchen konnte. Nämlich Zacharias Löwenherz mit dem feuerroten Bart, der Besitzer des Zirkus Löwenherz.
Dieser Name war ein Schwindel. Zacharias Löwenherz hieß in Wirklichkeit Anton Kluck. Den Namen Zacharias Löwenherz hatte er sich ausgesucht, weil er meinte, dass er gut zu einem Zirkus passe. Dabei war der ganze Zirkus nichts als Schwindel. Zacharias Löwenherz besaß nurdrei Affen, einen Fuchs und einen Bären, und diese Kleinigkeit nannte er Zirkus! Er wusste selbst, wie übertrieben es war. Deshalb gluckste er vor Freude, als er Wuschel in die Nische schlüpfen sah. So ein seltsames Wesen mit grünen Haaren – das war eine Seltenheit, eine Kostbarkeit! So etwas fand man nicht alle Tage. Wenn er dieses Wesen in einen Käfig sperren und ausstellen konnte, dann durfte sich sein Unternehmen wahrhaftig ohne Übertreibung Zirkus nennen.
Und so ging Zacharias Löwenherz schnurstracks aufdie Nische zu, packte Wuschel am Kragen, zog ihn hervor und sagte:
»Hör auf zu zappeln. Es nützt dir sowieso nichts. Du gehörst jetzt mir.«
»Nein«, schrie Wuschel. »Ich gehöre dir nicht! Ich bin ein Wawuschel! Ich gehöre in den Wald. Ich gehöre der Wawuschelmutter und dem Wawuschelvater! Lass mich los! Ich will heim!«
Aber Zacharias Löwenherz zischte: »Halt den Mund! Ab heute bin ich dein Herr! Kusch!« Und er steckte ihn in seine Jackentasche.
Auf diese Weise fiel Wuschel in die Hände des schrecklichen Zacharias Löwenherz, geriet in einen Käfig und wurde der Nachbar von drei Affen, einem Fuchs und einem Bären. Dort hockte er und versuchte, seine Tränen hinunterzuschlucken. Aber es fiel ihm von Stunde zu Stunde schwerer.
»Warum habe ich nicht auf Wischel gehört?«, dachte er. »Warum? Jetzt sehe ich sie vielleicht nie wieder.«
Er konnte ja nicht wissen, dass Wischel schon unterwegs war, um ihn zu suchen – wenn sie auch noch keine Ahnung hatte, wo.
5. Kapitel
Die Korkse brauchen eine Lampe
Nein, wo sie den verschwundenen Wuschel suchen sollte, wusste Wischel wirklich nicht. Sie wanderte mit dem Drachen durch den Wald, immer den Schienen nach, die von fern durch Bäume und Büsche blitzten. Wenn sich ein Zug ankündigte, warf sie sich auf den Boden und wartete, bis das Rauschen verstummt war. Dabei kniff sie die Augen fest zu. Sonst aber hielt sie ihre Augen offen und suchte den Waldboden ab. Der Drache tat mit seinen sechs Augen das Gleiche. Denn vielleicht, so hofften sie, lag Wuschel irgendwo im Moos.
»Wuschel!«, rief Wischel immer wieder. »Wuschel, bist du da?«
Kein Wuschel antwortete, kein Wuschel ließ sich sehen, nicht einmal ein Wuschel mit gebrochenen Beinen.
»Ach, Drache«, seufzte Wischel. »Er ist nicht da.«
»Vielleicht finden wir ihn noch«, tröstete der Drache sie fauchend. »Wir sind ja noch nicht lange unterwegs.«
Aber das stimmte nicht. Sie waren sogar schon sehr lange unterwegs. Als sie mit dem Wawuschelvater aufgebrochen waren, hatte die Sonne hoch oben am Himmel gestanden. Jetzt schienen ihre letzten Strahlen schräg durch die Bäume und
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