Das große Yogabuch
und schieben sich mal schnell, mal stockend wie Autos in der Rushhour durch den Kopf.
Die Gedanken ziehen unsere Aufmerksamkeit abwechselnd in die unterschiedlichsten Richtungen und manchmal auch in mehrere Richtungen gleichzeitig, wenn verschiedene Gedanken mit gleicher Intensität an uns zerren. Für viele gehört es auch zum Berufsalltag, dass eine Vielfalt von Dingen auf sie einstürmt, die alle gleichzeitig erledigt werden sollen. Wenn es ganz schlimm wird, umschreiben wir unseren Zustand mit »Ich weiß gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht«.
Der zerstreute Geist
Dieser Zustand ist dem Versuch vergleichbar, viele Sachen gleichzeitig in einer Hand zu halten: Wir können nichts richtig festhalten, und schnell geschieht es, dass uns etwas aus der Hand rutscht und hinfällt. In Zeiten, in denen viel auf uns einstürmt, neigen wir dazu, kopflos, verwirrt und zerstreut zu werden. Wir vergessen Dinge, reagieren unachtsam auf die Menschen um uns herum und haben Mühe, bei der Sache zu sein. Am Ende eines solchen Tages sind wir geistig, aber auch körperlich erschöpft und haben dennoch Mühe, gut zu schlafen, weil wir nicht »abschalten« können. Sind wir endlich eingeschlafen, treibt uns dieselbe innere Unruhe in den Traumphasen weiter um, sodass wir uns hin und her werfen, mit den Zähnen knirschen, wach liegen und grübeln …
Dass eine solche Lebensführung für Körper und Geist auf Dauer schädlich ist, weiß wohl jeder. Wir wissen nur nicht, wie wir mit diesen Anforderungen an unseren Geist umgehen sollen. Dabei tragen wir alle die natürlichen Anlagen zur Konzentration und geistigen Klarheit in uns.
Der Verlust des Spürens
Ein Geist, der immer wieder abschweift, verliert nicht nur den Faden im Tun oder im Gespräch, sondern er verliert ebenso die Kontinuität im Fühlen. Dadurch geht die Tiefe des Fühlens verloren, und der Mensch verliert die Spürfähigkeit und das Spürbewusstsein für sich selbst. Sich zu spüren, ist allerdings für uns Menschen wesentlich, denn nur so wissen wir, dass wir leben.
Menschen, die diesen feinen Draht zu sich verloren haben, suchen im Außen nach stärkeren Reizen. Sie fahren schnell und riskant Auto, brauchen heftige Auseinandersetzungen, starke Stimulation beim Sex, großen Stress, harte Sportarten – alles, um sich überhaupt noch zu spüren.
Ein stiller Geist ist die Voraussetzung dafür, dass wir zum Beobachter und Zeugen werden können. Das heißt, einfach wahrzunehmen, was geschieht oder was ist, ohne es zu bewerten, einzuordnen, zu kommentieren oder zu beeinflussen. Ich werde zum Zeugen meiner Gedanken und Gefühle. Ich werde zum Zeugen meines Tuns und meiner Begegnungen mit anderen Menschen. Ich trete ihnen mit Offenheit gegenüber und versuche, mir keine Meinung über sie zu bilden.
Konzentration lernen
Der Weg muss zurückführen zum Feineren, Zarteren und zur inneren Wahrnehmung, in der die Aufmerksamkeit gebündelt und gelenkt wird. Das Sanskrit-Wort Dharana für Konzentration bedeutet, nur eine Sache in der Hand zu halten. Diese eine Sache können wir »gut im Griff« haben. Mit nur einer Sache können wir uns wirklich beschäftigen, um sie zu verstehen und zu erkennen.
Wir brauchen Zeit und Geduld, um wieder zu lernen, uns zu konzentrieren. Insbesondere zu Beginn wird unser Geist immer wieder versuchen, sich der Konzentration zu entziehen, um wie gewohnt herumzuschweifen; deshalb muss er geschult und trainiert werden.
Zurückgezogen in sein »Körperhaus« kann der Geist sich niederlassen. In diesem inneren Raum kann er zur Ruhe kommen, sich sammeln, sich regenerieren und still werden.
Im inneren Raum still werden
Langsam geschieht dann das, was der Yoga unter Meditation versteht. Es geht darum, die Dinge mehr und mehr in ihrem Sosein zu erkennen. Ein unruhiger, aktiver Geist bewertet ständig alles, zieht Vergleiche und klassifiziert damit jeden Menschen und jedes Ding als angenehm oder unangenehm, gut oder schlecht. Ein stiller Geist dagegen kann mit Abstand schauen und die Verzerrungen, die durch unsere Erfahrungen, Erwartungen und Anschauungen entstehen, immer mehr beiseitelassen.
»Alles Wahrgenommene ist nur dazu da, um wahrgenommen zu werden«, bemerkt Patañjali dazu in seinem Yoga-Sutra (2.21) und rät uns damit, immer wieder zu versuchen, das Wahrgenommene »auf sich beruhen zu lassen«. Aus einer solchen Geisteshaltung entsteht Gelassenheit.
Die Grundlagentexte sagen zudem: Wenn sich unser Geist einem Gegenstand oder Menschen in
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