Das gruene Gewissen
Südens.
Zugleich war die Zeit einer rein nationalen Sichtweise auf die Natur vorbei. Die Globalisierung warf ihre Schatten voraus. Prognosen über den sprunghaften Anstieg der Weltbevölkerung wurden debattiert, neben dem Raubbau an der Natur in anderen Teilen der Welt wurden etwa der Artenschutz und die Ozonproblematik zu einem Thema. 49 Für die deutsche Umweltbewegung bedeutete dies eine Internationalisierung ihrer Perspektiven und damit auch eine politische Verschiebung. Erst mit dieser Verbindung aus Technik- und globaler Wachstumskritik wurde die Umweltbewegung zum Gegenstand der Linken.
Die siebziger und achtziger Jahre waren neben vielem anderen auch die Zeit der ersten großen Umweltskandale. Gewässer- und Bodenvergiftungen wurden publik, Mülldeponien riefen Proteste hervor. Im Rhein und in anderen Flüssen waren beispiellose Umweltschäden zu verzeichnen, als deren Verursacher nicht nur in einem Song der legendären Hamburger Punkband Slime aus dem Jahr 1982 das Profitstreben ausgemacht wurde:
„Tote Fische im Dash-Benzin
Schwimmen auf dem Fluss dahin
Chemie und Haushalt wird das selbe
Ein Leichenhemd liegt auf der Elbe
Kauf oder stirb! […]
Auch wenn die Erde draufgeht
Freiheit wird zum Verdruss
Konsum im Überfluss
Die Mutanten der Nationen
Der Atompilz leuchtet schon.“
Städte wie Wolfen oder Bitterfeld wurden zum Synonym einer maroden Industrieproduktion in der DDR. Sachbücher wie Seveso ist überall , das eine Brücke von der Umweltkatastrophe in der norditalienischen Kleinstadt zur Chemieindustrie in Westdeutschland schlug, avancierten zu Bestsellern. Es war die Zeit, in der die Grünen die politische Bühne betraten. 1982 spaltete sich von ihnen die Ökologisch-Demokratische Partei des ehemaligen CDU-Mitglieds Herbert Gruhl ab, einem der ersten Vorsitzenden des Bundes für Naturschutz und Umwelt (BUND). In diesem Jahr prägte der Exekutiv-Direktor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP), Mustafa Tolba, das schwierige Wort vom „ökologischen Holocaust“.
Das Paradigma der Wachstumskritik war somit in besonderer Weise dazu angetan, den Übergang von konservativen und christlich-schöpfungsbetonten zu linken und globalisierungskritischen Positionen darzustellen. Denn es war eine Kritik am ungezügelten Konsumismus, dem Haben statt Sein. Die begriffliche Unschärfe des Wachstumsbegriffs erlaubte es, dass die Grünen ohne Gegenwehr die Themen der Konservativen besetzen konnten, vor allem den Umwelt- und Verbraucherschutz.
Am 24. April 1986 kam es zum Störfall von Tschernobyl. Stärker als jener im amerikanischen Kraftwerk Three Miles Island bei Harrisburg 1979 und auch ungleich stärker als etwa das Chemieunglück im indischen Bhopal 1984, das mit vielen Tausend Toten bis heute zu den folgenreichsten Umweltvorfällen überhaupt zählt, führte Tschernobyl zu einer breiten Konsensbildung für eineUmweltbewegung in Deutschland, die seitdem vor allem eine Anti-Atombewegung gewesen ist. Tschernobyl stand für das Kardinalversagen der Technik und offenbarte über alle Ideologievorbehalte hinweg die reale Gefahr, die nun aus Sicht vieler bis dato unbeteiligter Bürger mit der Nutzung der Kernkraft verbunden war.
Das war eine neue Qualität der Wahrnehmung von Technik, die zeigte, worauf es bei deren gesellschaftlicher Akzeptanz von nun an kollektiv ankam: die unmittelbare Betroffenheit. Sie wandelte sich von lokalen Vorfällen plötzlich und mehr, als es das Waldsterben vermocht hatte, zu einem Thema aller. Als eine politische Reaktion auf Tschernobyl wurde nur fünf Wochen später das Bundesumweltministerium mit Walter Wallmann und später Klaus Töpfer an der Spitze gegründet, das bis heute im Namen auch den Zusatz „für Reaktorsicherheit“ trägt. Spätestens jetzt war der Umweltschutz als Instrument der Politik in der Mitte der Gesellschaft angelangt.
Der Vorfall, der in Christa Wolffs Erzählung Störfall im Osten und den Jugendbüchern Gudrun Pausewangs wie Die Wolke und Die letzten Kinder von Schewenborn im Westen seinen Niederschlag fand, zeigte aber auch ein Muster in der Wahrnehmung von Natur und Technik, dem wir bis heute anhängen: die Natur als Ort des Friedens und der Harmonie, die Technik als Hort der Gefahr.
Ein Wort macht Karriere: Akzeptanz
Wenn nach einem Jahrhundert Umweltgeschichte „Akzeptanz“ heute ein Schlüsselbegriff bei gesellschaftlichen Großprojekten wie der Energiewende geworden ist, so zeigt dies den Wandel an, der sich von der
Weitere Kostenlose Bücher