Das gruene Gewissen
haben die übermittelten Masernfälle deutlich zugenommen. Nach 571 Fällen im Jahr 2009 und 780 Fällen 2010 wurden dem RKI 1607 Fälle im Jahr 2011 gemeldet. Dies entspricht einem Anstieg von 10 auf 20 Fälle pro eine Million Einwohner. Kein Grund zur Beunruhigung, denkt man. Als Ziel für die angestrebte Eliminierung der Masern gibt die Weltgesundheitsorganisation allerdings das Auftreten von weniger als einem Fall pro eine Million Einwohner an. Bei Masern hat mit Mecklenburg-Vorpommern das erste Bundesland die von der WHO geforderte Impfquote von 95 Prozent für beide Masernimpfungen geschafft – auch ein Erbe der Impfmentalität in den neuen Bundesländern.
„Um zu verstehen, woher die Sorge der Mediziner kommt, muss man sich die statistische Größe der Kontagiosität der Masern ansehen“, sagt Cramer, also das Maß der Übertragbarkeit des Krankheitserregers. Sie wird mit einer Basisreproduktionszahl R 0 ausgedrückt, die beschreibt, wie viele Menschen im Schnitt theoretisch in einer vollkommen empfänglichen, also nicht immunen Population von einer infizierten Person angesteckt werden könnten. Aus dieser Zahl R 0 wiederum kann abgeschätzt werden, wieviele Menschen um einen Infizierten herum geimpft sein müssten, damit es innerhalb dieser Population nicht zu einer epidemieartigen Ausbreitung eines Infektionserregers kommt.
Während diese Basisreproduktionszahl bei der Influenza bei ungefähr 2 liegt, kommt man bei Masern auf 17. Entsprechend müsste ein Drittel einer Bevölkerung gegen Influenza geimpft sein, um eine relevante Epidemie zu verhindern. Bei Masern hingegen sind es die genannten 95 Prozent. Masern sind mit andern Worten höchst kontagiös und können bei Kleinkindern lebensbedrohliche Folgen durch fieberhafte Lungenentzündungen oder Hirnhautentzündungen auslösen, sogenannte Masernenzephalitiden. Die Häufigkeit liegt bei 1:500 bis 1:2000. Wenn sie auftreten, liegt die Sterberate bei zehn bis zwanzig Prozent. 82 Die sogenannte Defektheilungsrate, also die anschließende Behinderung, liegt bei zwanzig bis dreißig Prozent. Jedes vierte Kind bleibt somit behindert.
Nach Einführung der Durchimpfung sind die Masern etwa in Finnland und Großbritannien beinahe eliminiert. In Deutschland hingegen trat aufgrund einer geringeren Durchimpfungsrate zuletzt 1996 eine große Masern-Epidemie mit bis zu 100000 Erkrankungsfällen und zehn Todesfällen auf. 83 Für Volker ter Meulen, der früher selbst als Kinderarzt arbeitete, ist der Impfschutz vor infektiösen Erkrankungen darum nach wie vor die größte Errungenschaft der modernen Medizin, wichtiger noch als die uns heute geläufigen Maßnahmen der Hygiene seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts.
Schwangerschaft und Geburt bedeuteten lange nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Mütter ein Risiko. Viele starben nach der Geburt am Kindbettfieber. Die Geschichte der Medizin lehrt für ter Meulen aber, dass der Mensch der Natur immer nur hinterherrenne, diese in einem permanenten Evolutionsprozess begriffen sei. Denn die Bakterien- und Virenstämme passen sich an die neuen Gegebenheiten ständig an. Als man das Penicillin erfand, glaubte man, auch die Erreger im Griff zu haben. Das Gegenteil war der Fall, wie man heute an Antibiotika-Resistenzenablesen kann. Mittlerweile sind die Gefahrenszenarien noch ganz andere: So erlaubt es die Synthetische Biologie, entsprechende Erreger – seien sie auch nicht mehr auffindbar – jederzeit in vitro herzustellen. Wollen wir uns dieser Gefahr mit Hinweis auf die Natur wirklich aussetzen? Anscheinend sehen wir andere Gefahren mit wacherem Auge.
Auch naturphilosophisch gesprochen ist dieses „Festhalten“ an einem statischen Naturzustand der Erreger ein irritierender Gedanke, weil gerade die Gegner des Impfens von sich sagen würden, im besseren Einklang mit der Natur zu leben. Tatsächlich tun sie das Gegenteil, indem sie nicht anders als die selbstbewussten Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert glauben, die Komplexität und Adaptivität der Natur durchschaut zu haben. Allein deshalb, weil der Mensch die Natur in ihren Biotopen nicht respektiert, sondern überall eindringt, ist diese Vorstellung geradezu paradox, wie die Beispiele SARS und auch AIDS zeigen. „Man will das Rad der Geschichte zurückdrehen und denkt, man sei der Herr der Natur“, sagt ter Meulen. In Deutschland sieht man heute keine Kinderlähmungen mehr, keine Masern-Epidemien im großen Stil. Dafür wird über Impfschäden
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