Das gruene Gewissen
Gesellschaftsmagazinen, die beim benachbarten Gruner + Jahr Verlag entstehen.
Mehrfach im Jahr ist Cramer zu Studienzwecken in Ghana, um Kinder mit schwerer Malaria über längere Zeiträume zu untersuchen. Er hat dadurch einen vergleichenden Blick auf den Umgang mit lebensbedrohlichen Krankheiten, wie sie schwere Infektionen darstellen. Die Reise-Medizin, ein Orchideenfach, liefert in Zeiten sozialer Mobilität wichtige Ergebnisse über die Ausbreitung von Krankheiten außerhalb Deutschlands und nach Deutschland hinein. Die grüne deutsche Insel: Bei der Ausbreitung von Epidemien wie Schweinegrippe oder Ehec wird klar, wie sehr diese Vorstellung einer eigenständigen, abgeschlossenen Umwelt nicht mehr mit der Lebensrealität in einer hoch vernetzten globalen Welt zusammenpasst. Sie macht auch vor den Hochburgen des Bio-Bewusstseins nicht halt. Ganz im Gegenteil.
Nicht wegen seiner Forschungsergebnisse zur Malaria, sondern wegen der öffentlichen Aufregung um die Schweinegrippe war Cramer 2009 häufig in den Medien. Er hält die damalige Empfehlung der WHO zur Entwicklung von Impfstoffen gegen die Schweinegrippe für alternativlos. Ihn beunruhigt eher ein Phänomen, das über den konkreten Fall hinausgeht: Sobald eine akute Gefahrensituation vorhanden ist, reißen sich die Menschen um den Impfstoff, während die Impfbereitschaft ansonsten in bedrohlichem Maße abnimmt. „Besonders bei den vermeintlich aufgeklärten Städtern nimmt sie ab. Anderswo, etwa auf dem Land, wird hingegen einfach durchgeimpft.“ Mehr als der Umgang mit der Schweinegrippe, glaubt Cramer, sei die Zahl der Masern-Infektionen ein handfester Beleg für den Zusammenhang von gestiegenen Infektionen und Impfgegnerschaft in den Städten.
„Man muss hier Klartext reden und darf nichts beschönigen“, sagt auch Volker ter Meulen. Der emeritierte Virologe der Universität Würzburg war Gründungspräsident der Nationalen Akademie der Wissenschaften – Leopoldina, und, wenn man so will, einer der wichtigsten wissenschaftlichen Politikberater in Deutschland im Bereich der Naturwissenschaften und Medizin. Sein Nachfolger ist Jörg Hacker, der zuvor das Robert-Koch-Institut leitete.
Zu den Argumenten der Impfverweigerung zählt dabei aus seiner Sicht auch ein besonders problematisches: Man nimmt die Tatsache, dass es anders als bei der Schweinegrippe bei manchen Infektionen nicht zum Ausbruch gekommen ist, im Nachhinein als Argument dafür, richtig gehandelt zu haben. Hier kommt sie zum Tragen, die „rückwärts gekehrte Prophetie“. Dabei vergisst man, dass andere den passiven Impfschutz mitgeliefert haben, auf dem man sich ausruht.
„Es ist unverantwortlich, wenn junge Eltern heute aus ideologischen Gründen glauben, sie müssten nicht mehr impfen. Denn sie leben vom geliehenen Impfschutz anderer“, sagt ter Meulen. Und die Statistiken scheinen ihn zu bestätigen: Anders als noch vor zwanzig oder dreißig Jahren sind vor allem die Masern zurück in deutschen Städten, die zu hundert Prozent hoch ansteckend sind und bei denen man eine „Durchimpfungsrate“ von 95 Prozent für einen wirksamen Schutz insbesondere von Kindern braucht. Dies schließt zumindest eine Epidemie aus, Einzelfälle kann es immer geben. „Die moderne Gesellschaft betrachtet den medizinischen Fortschritt auf dem Gebiet der viralen Infektionskrankheiten als selbstverständlich, ohne selbst Vorsorge zu betreiben“, resümiert ter Meulen.
Die Rückkehr der Masern
In Deutschland werden die Empfehlungen zum Impfen von der beim RKI ansässigen Ständigen Impfkommission, kurz STIKO,erarbeitet. Sie ist so etwas wie das zentrale Feindbild der Impfgegner, eine Art Atomforum für Kernkraftgegner. Zusammengesetzt ist sie aus ehrenamtlichen Experten der Wissenschaft, der Ärzteschaft, aber auch aus den großen Gesundheitsämtern der Städte. Zu den Empfehlungen der STIKO zählen etwa die Influenza-Schutzimpfung für alle Schwangeren und eine generelle Masern-Schutzimpfung für junge Erwachsene. Neben der Ausrottung der Poliomyelitis, der Kinderlähmung, ist die Eliminierung der Masern das Ziel nationaler Gesundheitspolitik. Bei der Polio ist dieses Ziel heute in Deutschland erreicht, während Kinderlähmung in Ländern wie Indien weit verbreitet ist.
Im Jahr 2010 erweiterte die STIKO ihre Masern-Impfempfehlung aufgrund der häufiger auftretenden Ausbrüche in Deutschland ebenso wie der zunehmenden Impflücken vor allem in der Gruppe der jüngeren Erwachsenen. 81 Laut Kommission
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