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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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dafür entwickelten pseudopoetischen Sprache nachzuerzählen – das wirkte immer schwülstig und verlogen. Musikalische Inhalte ließen sich nicht in literarische oder visuelle Bilder übersetzen. Er hasste die grauenhaften Kommentare in Programmheften – wie Chopin zu verstehen sei oder was Tschaikowski gemeint habe.
    Mit dem gleichen Erstaunen betrachtet ein kleines Kind die Beschäftigungen der Erwachsenen – und hält sie für dumm.
    Was er jetzt hörte, verlangte Anstrengung und große Aufmerksamkeit. Das ist ein Text in einer fremden Sprache, kam es Sanja in den Sinn.
    Die Musik, die unter den Händen der alten Dame entstand, war überwältigend. Auf eine derart physische Weise hatte Sanja Musik hin und wieder auch zuvor schon erlebt. Er spürte, wie die Töne seinen Schädel ausfüllten und weiteten. Als käme im Körper ein unbekannter biologischer Prozess in Gang – etwa die Entstehung von Hämoglobin oder das Wirken eines starken Hormons im Blut. Etwas wie Atmung oder Fotosynthese, das mit der Natur selbst zu tun hatte …
    »Was ist das?«, fragte er, jeden Anstand vergessend, seinen Nachbarn.
    Der verzog die feingezeichneten Lippen zu einem Lächeln.
    »Stockhausen. Den spielt bei uns niemand.«
    »Da steht die Welt still …«
    Sanja meinte nicht den Weltuntergang im religiösen oder wissenschaftlichen Sinn. Es war nur eine gängige Floskel. Doch Kolossow sah den jungen Mann voller Interesse an. Als Theoretiker betrachtete er diese neue Musik als das Ende der alten und den Beginn einer unbekannten neuen Zeit und maß dieser unsichtbaren, den meisten Menschen verborgenen Veränderung große Bedeutung bei, und Menschen, die genau wie er diesen Ruck spürten – der womöglich die gesamte Evolution und das menschliche Bewusstsein betraf –, schätzte er sehr. Es gab nicht viele solche Menschen, die ihrer Zeit voraus waren und eine neue Welt nicht nur prophezeiten, sondern auch fähig waren, sie zu analysieren, zu erforschen.
    »Ich verstehe nicht, wie sie strukturiert ist«, sagte Sanja und traf damit genau Kolossows Gedanken. »Vielleicht ist das mehr als ein neuer Stil, vielleicht ist es eine ganz andere Denkweise. Überwältigend …«
    Kolossow war glücklich.
    »Sie sind natürlich Musiker?«
    »Nein, nein. Ich hätte einer werden sollen … aber eine Verletzung … Eine schlimme Geschichte aus der Kindheit. Musik kann ich nun nur noch hören.« Er hob die rechte Hand mit den beiden für immer gekrümmten Fingern. »Ich studiere am Fremdspracheninstitut, nächstes Jahr bin ich fertig.«
    »Besuchen Sie mich einmal, dann reden wir. Ich glaube, wir haben ein Thema.«
    Alles, was nach Stockhausen geschah, vergaß Sanja, selbst Maria Weniaminowna verblasste ein wenig. Er erinnerte sich später nur noch, dass er das Brautpaar zum Bahnhof gebracht hatte – sie machten eine Hochzeitsreise ins Baltikum.
    Wichtig war nur eines: die Vorahnung eines großen Ereignisses. Am nächsten Tag ging Sanja nach der Uni zu Juri Andrejewitsch ins Konservatorium, wo dieser unterrichtete. Sie nahmen ihr Gespräch dort wieder auf, wo sie es am Vortag unterbrochen hatten.
    Dann fuhren sie in einen entlegenen Stadtbezirk, von der Metrostation Woikowskaja eine halbe Stunde mit der Straßenbahn – ein gesichtsloses Neubauviertel, ein trauriges Mittelding zwischen ausgestorbenem Dorf und nicht verwirklichter Stadt. Sie vereinbarten, dass Juri Andrejewitsch ihn unterrichten würde.
    In der demütigend kleinen Einzimmerwohnung, beinahe einer samjatinschen Zelle – Samjatins Roman Wir hatte Sanja gerade gelesen –, gab es nichts außer einem Klavier und Regalen und Schränken voller Bücher und Noten. Keinen Tisch, an dem gegessen, kein Sofa, auf dem geschlafen wurde, keinen Schrank, in dem Mäntel hingen. Juri Andrejewitsch sah in seiner eigenen Wohnung aus, als wäre er zu Besuch – gebügelter Anzug, gesprenkeltes Halstuch, blankgeputzte Schuhe. Lange Zeit glaubte Sanja, diese Wohnung sei nur das Arbeitszimmer seines Lehrers, und er wohne an einem anderen, menschlicheren Ort. Dann entdeckte er in der Küche eine Steingut-Teekanne und eine Holzschatulle mit chinesischem Tee. Und noch später wurde ihm klar, dass Juri Andrejewitsch mit seinem gebügelten Anzug, seinen Halstüchern und seiner fast militärisch straffen Haltung im Grunde ein Einsiedler war und dass sich unter seiner Verkleidung ein echter Asket verbarg.
    Wie schaffte er es nur, sein musikalisches Mönchsdasein zu bewahren – in dieser gemeinen und

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