Das gruene Zelt
kein gegenseitiges Stützen, kein Gleichklang der Stimmen, sondern eine beunruhigende gegenseitige Taubheit. Zwischen Klavier und Geige gab es keine seelische Übereinstimmung, und er hasste Boris dafür, dass der so stumpf war, so egoistisch und schrecklich selbstverliebt. Nein, Lisa durfte ihn nicht heiraten, nein!
Sanja ging, ohne seine Blumen zu überreichen. Die drei in weißes Papier gewickelten roten Nelken, die er in seinen Mantelärmel geschoben hatte, warf er in einen Papierkorb vor dem Tschaikowski-Denkmal.
Die Hochzeitstafel war familiär – bescheiden und luxuriös zugleich. Es waren nicht viele Gäste geladen: die Eltern, die engsten Freunde. Insgesamt vierundzwanzig Personen, entsprechend der Anzahl Gedecke von dem festlichen Tafelgeschirr, das die Großeltern von Boris zur Hochzeit bekommen hatten.
Der Großvater Grigori Lwowitsch, ein berühmter Geiger und Musikpädagoge, hing gerahmt neben einem Porträt der blutjungen Großmutter Eleonora, gemalt von Leonid Pasternak. Der Großvater war am Kosmopolitismus gestorben, die Großmutter, vor sehr langer Zeit einmal Sängerin, hatte die Kosmopolitismus-Kampagne ebenso überlebt wie ihren Mann und ihren Sohn und führte nun mit eiserner Hand ihr hochorganisiertes Haus auf höchstem gesellschaftlichem Niveau – wie es kaum noch jemand konnte.
Der Tisch strahlte wie ein Eisberg in der Sonne, das blankgeputzte Silber funkelte, die Kristallgläser blinkten, auf ovalen und runden Tellern lagen hauchdünne Scheiben Fisch und Käse. Eleonora hätte ebenso wie Jesus viele Menschen mit nur fünf Broten speisen können – in so dünne Scheiben konnte sie es schneiden. Allerdings blieb nie etwas übrig. Das Essen war immer ein wenig knapp, dafür gab es viel Geschirr.
Das Brautpaar trug seine Konzertkleidung – Boris einen Smoking, Lisa ein strohgelbes Kleid mit Spitze, in dem sie erstaunlich unvorteilhaft aussah.
Unter den Gästen waren vier der besten Musiker aus diesem Teil der Welt mit ihren Frauen. Der kahle Kopf eines großen Pianisten glänzte, ein großer Geiger schmiegte seinen weichen Körper in einen Polsterstuhl. Die fünfte Interpretin, ebenfalls ein Musikgenie – die Einzige ohne Begleitung, die zudem nie verheiratet gewesen war –, hatte ihre zerschlissene Handtasche, aus der der grüne Hals einer Kefirflasche ragte, auf den Tisch gestellt, neben das funkelnde Besteck. Ein großer Cellist, ein enger Freund des verstorbenen Hausherrn, stocherte mit einem angespitzten Streichholz in seinen Zähnen. Ein berühmter, aber nicht wirklich großer Dirigent kaute mit schmalen Lippen, schaute genau, was auf den einzelnen Tellern lag, und tat, als bemerkte er die drohenden Blicke seiner Frau nicht. Den nichtmusikalischen Teil der Gesellschaft bildete abgesehen von den neuen Verwandten ein Ehepaar, die nächsten Datscha-Nachbarn der Familie, ein Chemieprofessor und Akademiemitglied mit seiner Gattin. Eleonora Sorachowna, die sich meisterhaft auf die Pflege mondäner Kontakte verstand, war enttäuscht – die Frau eines berühmten Komponisten hatte gerade angerufen und mitgeteilt, dass sie nicht kommen könnten.
Das Jahrhundertarrangement, das sie geplant hatte, war gescheitert.
»Ein Déjà-vu«, flüsterte Anna Alexandrowna ihrem Enkel zu. »Ich war auf Eleonoras Hochzeit vor fünfzig Jahren. In genau dieser Wohnung. 1911 …«
»Mit denselben Gästen?«, spöttelte Sanja.
»Ungefähr. Alexander Nikolajewitsch Skrjabin war da. Er kam gerade aus dem Ausland.«
»Skrjabin? Hier?«
»Ja. Aber er ist gekommen, im Gegensatz zu Schostakowitsch, der sich nicht herbequemt hat. Alle mochten Grigori Lwowitsch, aber niemand mochte Eleonora.«
»Und wer war noch da?«
»Leonid Ossipowitsch und Rosalija Issidorowna Pasternak. Sie war eine wunderbare Pianistin, sie wurde schon als kleines Mädchen von Anton Rubinstein entdeckt. Ein enger Kreis. Verwandtschaft, Angeheiratete, Kollegen … Ich war etwa in deinem Alter, nein, ich war natürlich jünger. Diese Hochzeit habe ich mein Lebtag nicht vergessen. Und du wirst diese hier nicht vergessen.« Sie seufzte.
»Und wie bist du hierhergeraten?«, wollte Sanja wissen.
»Ich hatte … mein erster Mann war Cellist. Er war ein Freund des Bräutigams. Irgendwann erzähle ich dir mal davon.«
»Komisch, dass du das früher nie erwähnt hast.«
Anna Alexandrowna ärgerte sich über sich. Sie hatte doch schon vor langer Zeit beschlossen, nicht ihre ganze Vergangenheit vor dem armen Jungen auszubreiten. Aber
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