Das gruene Zelt
er die fünfzehn Minuten nicht hinten dran.
Außer Tonleitern, Harmonielehre und Musikgeschichte wurden bei der Aufnahmeprüfung am Konservatorium auch die üblichen allgemeinbildenden Fächer verlangt: Aufsatz, Fremdsprache, Geschichte der UdSSR. Diese Prüfungen machten Sanja keine Sorgen. Das Schwierigste war für ihn die obligatorische Klavierprüfung. Es musste ein vorbereitetes Repertoire gespielt werden und ein Stück vom Blatt. Natürlich wurde von den Musiktheoretikern nicht verlangt, dass sie das Instrument beherrschten wie professionelle Pianisten, aber Sanja war trotzdem besorgt. Seit der Verletzung durch Murygins Springmesser fehlte ihm jeglicher Mumm zum Spielen.
In den theoretischen Fächern schnitt Sanja sehr gut ab, auch die Klavierprüfung bestand er mehr als befriedigend – Jewgenija Danilowna hatte ihre Kraft nicht vergeudet. Und niemandem in der Prüfungskommission war aufgefallen, dass zwei Finger seiner rechten Hand verkrüppelt waren. Das war Sanjas wichtigster Triumph.
Im Herbst, als seine Kommilitonen am Fremdspracheninstitut das fünfte Studienjahr begannen, wurde Sanja an der musiktheoretischen Fakultät des Konservatoriums immatrikuliert. Anna Alexandrowna war glücklich. Jewgenija Danilowna noch mehr. Vor Freude schenkte sie Sanja Noten mit einem Autogramm von Skrjabin. Doch zu dieser Zeit hatte Sanja bereits ein skeptisches Verhältnis zu Skrjabin.
Recht hatte Viktor Juljewitsch, tausendmal recht, Sanja war ganz seiner Meinung: der richtige Lehrer, das ist wie eine zweite Geburt. Nur führte nun ein anderer Lehrer seinen Schüler in ein neues Koordinatensystem ein, zeigte ihm neue Inhalte, erweiterte seine Vorstellungen von der Welt. Die scharfsinnigsten Schüler entdeckten mit einigem Schaudern, dass hier nicht nur von der Musik die Rede war, sondern von der Struktur des ganzen Weltgebäudes, von den Gesetzen der Atomphysik, der Molekularbiologie, von Sternschnuppen und Blätterrauschen. Und nicht nur die Wissenschaft ließ sich so erfassen, nein, auch die gesamte Poesie, ja, jedwede Kunst.
»Die Form ist das, was den Inhalt eines Werkes zu seinem Wesen macht. Versteht ihr? Der musikalische Charakter steigt aus der Form auf wie Dampf von heißem Wasser«, sagte Juri Andrejewitsch. »Wenn man die allgemeinen Gesetze der Form beherrscht und alles formuliert, was sich formulieren lässt, dann kann man über das Allgemeine auch das Individuelle, Charakteristische erkennen. Und wenn man das Allgemeine erkannt hat, ertastet man einen gewissen Rest, in dem sich das ungetrübte Wunder offenbart. Genau das ist der Zweck der Analyse: Je gründlicher das Fassbare erfasst ist, desto reiner strahlt das Unfassbare.«
»Hört genau zu!« Er legte eine schwarze Scheibe auf den Plattenteller. Die Nadel förderte nicht ganz vollkommene Töne zutage, doch das gemeinsame Vertiefen in die Noten, ihre Aufnahme mit den Augen und über die Augen mit den Ohren und dem Gehirn ergab eine neue Beschreibung der Welt, führte die Gedanken in unerforschte Räume.
Dabei verachtete der Lehrer jede Pathetik, hochtrabende Worte und leeres Geschwätz und unterband jeden Versuch, mit den Mitteln der schönen Literatur über die Musik zu sprechen.
»Wir messen hier die Harmonie nicht mathematisch! Wir erforschen die Harmonie! Das ist eine exakte Wissenschaft, genau wie die Mathematik. Und die Poesie lassen wir einstweilen beiseite!« Er sprach leidenschaftlich, als stritte er mit einem unsichtbaren Opponenten.
Die Schüler vergötterten ihn, die aufmerksame Obrigkeit hegte Misstrauen – in ihm steckte etwas potentiell Antisowjetisches.
Juri Andrejewitsch Kolossow war Strukturalist, zu einer Zeit, da dieser Begriff sich noch nicht durchgesetzt hatte. Doch die Obrigkeit reagierte schon immer misstrauisch auf Dinge, die sie nicht verstand.
Kolossow erweiterte die Grenzen der Unterrichtsfächer Harmonielehre, Musikgeschichte und Geschichte der musiktheoretischen Systeme, indem er seine Schüler in die Antike eintauchen ließ oder ihnen eine ganz neue, die allerneueste Musik offenbarte. Das war die sogenannte zweite Avantgarde, die gerade erst die UdSSR erreicht hatte, die Nachfolger von Anton Webern: Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen, Luigi Nono. Und gleich nebenan, auf den Fluren des Konservatoriums, liefen schon die eigenen Avantgardisten herum: Edisson Denissow, Sofia Gubaidullina, Alfred Schnittke …
Das alles war noch nicht gefestigt und kategorisiert, es war brandneu. Selbst Schönberg klang noch
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