Das gruene Zelt
neu.
Sanja schwirrte der Kopf; alles schwappte über ihn herein wie eine mächtige Welle: Barock, frühe Klassik, der allumfassende Bach, die verschmähte, mit den Jahren wieder akzeptierte Romantik, Beethoven, der die äußerste Grenze der klassischen Musik erreicht zu haben schien, und all die neuen Komponisten, neuen Töne, neuen Gedanken.
Es regnete, es schneite, Pappelflaum flog durch die Straßen, unerträglich war das politische Getöse über Siege und Leistungen, die Losung: »überholen ohne einzuholen«. In den Küchen wurde Tee und Wodka getrunken, raschelten kriminelle Papiere, rauschten Tonbandaufnahmen mit Galitsch und dem jungen Wyssotzki, und auch dort entstanden neue Töne und neue Gedanken. Doch das alles bemerkte Sanja kaum. Das war die Welt von Ilja und Micha, seinen Schulfreunden, die sich immer weiter von ihm entfernten.
Das Chrustschowsche Tauwetter war noch nicht zu Ende, aber Chrustschow machte bereits einen Rückzieher und rief auf einer öffentlichen Parteiveranstaltung: »Die Idee von einem sogenannten Tauwetter – das hat er sich geschickt ausgedacht, dieser Gauner Ehrenburg!«
Das Signal war also gegeben, die erneute Abkühlung begann.
Die Musikkenner in der Regierung wurden in dieser Epoche von Kennern der bildenden Kunst abgelöst. Sanja erreichte nur der Widerhall der Schlachten, die in den Ausstellungsräumen der Manege stattfanden, vor allem durch Ilja.
Micha war fast völlig aus Sanjas Blickfeld verschwunden, er lebte nun in einem Vorort von Moskau und unterrichtete in einem Internat. Am häufigsten sah ihn Anna Alexandrowna – ihr erzählte er von seiner Arbeit mit taubstummen Kindern, die ihm sehr ans Herz gewachsen waren. Allerdings gehörte sein Herz nicht ausschließlich dieser sprachlosen Gemeinschaft, den anderen Teil beherrschte Aljona, die ihm mal ganz nahe war, dann wieder verschwand wie Schnee im Regen. Ja, sie war ein wenig wie Wasser: eiskalt, fließend, unbeständig; plötzliche Aufwallungen wechselten mit ebenso überraschendem Abebben.
Micha hatte Sanja und Aljona miteinander bekanntgemacht. Sanja hatte das Faszinierende an ihr gespürt und war besorgt: ein gefährliches Mädchen. Ihm selbst würde Michas Zustand nervöser Verliebtheit keinesfalls behagen. Doch auch Iljas selbstsicherer Erfolg bei Frauen, der ihn an den entsetzlichen Hauswartsverschlag erinnerte, weckte in Sanja keinen Neid. Die weibliche Natur schreckte ihn ab. Im Konservatorium war er meist mit jungen Männern zusammen, aber mit niemandem eng befreundet. Die Jungen, die ihm interessierte Blicke zuwarfen, fürchtete Sanja nicht weniger als die ihn attackierenden Mädchen. Die Welt der Musik, die hinter Tschaikowskis bronzenem Denkmalrücken brodelte, hatte eine Vorliebe für die in der Bibel verfluchte Sünde. Allerdings noch mehr für Neid und Eitelkeit. Aber dafür wurde niemand eingesperrt.
Die im Konservatorium tobenden Leidenschaften berührten Sanja nicht. Auch die Winde, die draußen wehten, erreichten ihn kaum. Weder das Tauwetter noch die darauffolgende Abkühlung hatten auch nur das Geringste mit ihm zu tun.
In den oberen Etagen zitterten die ängstlichen Chefs, aber zum Glück interessierte sich Chrustschow nicht für die »wunderbare, übermenschliche« Musik, und auch die »chaotische Musik« kümmerte ihn wenig. Er war vollauf zufrieden mit simplen Volksliedmelodien. Primitiv, ungebildet, von seiner Macht berauscht, regierte er das riesige Land so, wie er es verstand: Er erhob die Hand gegen Stalin, verbannte den Toten aus dem Mausoleum, ließ Häftlinge frei, erschloss Neuland, verordnete dem ganzen Gebiet Wolodga den Maisanbau, sperrte illegale Textilproduzenten, Witzeerzähler und Asoziale ein, drückte Ungarn die Luft ab, schickte den ersten Sputnik in den Weltraum und verhalf der UdSSR mit Gagarin zu Ruhm. Er zerstörte Kirchen und baute Maschinen-und-Traktoren-Stationen, verschmolz dieses und trennte jenes, vergrößerte manches und verkleinerte anderes. Beiläufig schenkte er die Krim der Ukraine … In übelstem Straßenjargon wusch er der Intelligenz den Kopf und lernte es sogar fast, dieses für ihn schwierige und fremde Wort auszusprechen. Dafür übernahmen die Radiosprecher Chrustschows fehlerhafte Aussprache von »Kommunismus« und »Sozialismus«. Weil er überall Fäulnis, Fallen und bürgerliche Einflüsse witterte, förderte er den leicht verständlichen Lyssenko und knebelte Genetiker, Kybernetiker und die, deren Gedanken er nicht verstand. Als Feind der
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