Das gruene Zelt
schmutzigen Welt, von allen Seiten umgeben vom widerwärtigen und gefährlichen sowjetischen Alltag? Einfach unglaublich …
Mit jenem ersten Abend begann Sanjas Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung für die musikwissenschaftliche Fakultät des Konservatoriums. Juri Andrejewitsch unterrichtete so, wie ein Zimmermann seinem Lehrling beibringt, einen Nagel mit einem einzigen Hammerschlag einzuschlagen, wie ein Koch seinem Lehrling zeigt, wie man Zwiebeln und Möhren millimetergenau kleinhackt, wie ein Chirurg den Studenten lehrt, das Skalpell mühelos und wie ein Künstler zu führen. Er lehrte das Handwerk. Doch das Wesentliche waren nicht die Erklärungen – was bei der Auflösung eines einführenden Septakkordes verdoppelt werden muss, wie man eine Tritonustransponierung spielt, wie im »goldenen Schnittpunkt« die Register der entgegengesetzten Stimmen einander entsprechen … Kolossow lehrte mit der gleichen Begeisterung, mit der Sanja lernte.
»Sie wissen noch gar nicht, was für ein Glück Sie mit Ihrer Hand hatten. Der wahre Musiker ist nicht der Interpret, sondern der Komponist und der Theoretiker. Der Theoretiker sogar in höherem Maße. Musik ist eine Quintessenz, eine extrem komprimierte Information, sie ist das, was außerhalb unseres Gehörs, unserer Wahrnehmung, unseres Bewusstseins existiert. Die höchste Stufe des Platonismus, das himmlische Eidos in Reinform. Verstehen Sie?«
Sanja verstand nicht ganz, eher fühlte er es. Aber er ahnte, dass sein Lehrer ein wenig übertrieb – zu gut erinnerte er sich an sein kindliches Glücksgefühl, wenn die Musik direkt unter seinen Händen entstand.
Dies war das glücklichste Jahr in Sanjas Leben. Die Hülle der groben, schmutzigen Welt platzte auf, und durch die Risse strömte neue Luft herein. Die einzige Luft, die seine Seele zum Atmen brauchte. Es war eine ebensolche Erschütterung wie damals in der sechsten Klasse, als ihr neuer Lehrer Viktor Juljewitsch jedes Mal beim Hereinkommen Verse rezitierte. Aber inzwischen war Sanja erwachsen, er hatte den schmerzhaften Abschied von der Musik erlebt, einen Abschied für immer, wie er glaubte – und nun stellte sich heraus, dass die Liebe nach der Trennung nur stärker geworden war. Seine Begabung, die tief in ihm geschlummert hatte, war nach zehnjährigem Schlaf wieder erwacht und drängte nach oben. Die langweiligen Tonleitern der Kindheit verwandelten sich in die spannende Lehre von der Beschaffenheit der Musik. Einige Jahre darauf war Sanja überzeugt: Schon die Tonleitern damals hatten von der Beschaffenheit der Welt erzählt, mit den einfachen Worten einer allerersten Annäherung.
Zweimal wöchentlich verbrachte Sanja anderthalb Stunden bei Juri Andrejewitsch, schrieb schwierige Diktate und absolvierte endlose Übungen, um sein musikalisches Gedächtnis zu trainieren und seine theoretischen Kenntnisse zu festigen. Juri Andrejewitsch spielte etwas auf dem Klavier, und Sanja bestimmte nach dem Gehör einzelne Intervalle und Akkorde, ihre Reihenfolge, den Wechsel von Tonarten.
Zusätzlich wurde Jewgenija Danilowna gebeten, Sanja wieder zu unterrichten, und sie reservierte in ihrem prall gefüllten Terminkalender zwei Stunden in der Woche für ihn – zu der Zeit unterrichtete sie musikalische Wunderkinder, mindestens ein Dutzend ihrer Schüler mehrte später den Ruhm der Zentralen Musikschule. Die berühmte Klavierlehrerin der hochbegabten Schüler verlor mit dem verkrüppelten Sanja nur wertvolle Zeit, aber in ihrer Generation, also der von Anna Alexandrowna, war es undenkbar, ein Kind aus dem Freundeskreis abzuweisen, auch wenn es keine Perspektive gab. Schließlich eignete sich Sanja mit Hilfe einer neuen Technik, die die beiden verkrüppelten Finger berücksichtigte, ein kunstvoll zusammengestelltes Repertoire an, dessen Krönung Bachs Chaconne war – in Brahms’ Bearbeitung für die linke Hand.
Anna Alexandrowna verkaufte in jenem Jahr ihren letzten Schmuck – Brillantohrringe und Anhänger. Um den Unterricht zu bezahlen.
Sanja eilte zum Unterricht wie zu einem Rendezvous, und auch Juri Andrejewitsch war angetan von seinem neuen Schüler – er lernte wie im Flug und stellte mitunter Fragen, die dem behandelten Stoff vorauseilten, und Juri Andrejewitsch blühte auf, lächelte, wurde aber sogleich wieder streng, denn er war gegen Verhätschelung. Er beendete den Unterricht gewöhnlich auf die Minute genau, und als Sanja einmal wegen eines defekten Busses eine Viertelstunde zu spät kam, hängte
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