Das gruene Zelt
füreinander bestimmt sind. Manchmal ergibt sich eine solche Begegnung scheinbar ohne besonderes Zutun des Schicksals, ohne raffinierte Arrangements, allein aus dem natürlichen Lauf der Dinge – zum Beispiel, weil diese Menschen im selben Hof wohnen oder dieselbe Schule besuchen.
Diese drei Jungen gingen in dieselbe Klasse. Ilja und Sanja von Anfang an, Micha kam später dazu. In der Hierarchie, die sich spontan in jedem Rudel herausbildet, standen alle drei ganz weit unten – wegen ihrer vollkommenen Unfähigkeit zu Prügeleien und Brutalität. Ilja war lang und dünn, Arme und Beine ragten aus zu kurzen Ärmeln und Hosenbeinen. Überdies riss jeder Nagel, jede scharfe Kante unweigerlich ein Loch in seine Kleidung. Seine Mutter, die alleinstehende, verzagte Maria Fjodorowna, mühte sich redlich, mit ihren zwei linken Händen Flicken auf alle Löcher zu nähen – sie saßen immer schief und krumm. Die Kunst des Nähens war ihr einfach nicht gegeben. Aber Ilja, stets schlechter angezogen als die anderen, ebenfalls schlecht gekleideten Jungen, spielte gern den Clown, alberte ständig herum und stellte seine Armut regelrecht zur Schau – eine erhabene Form, sie zu überwinden.
Sanja war schlimmer dran. Seine Reißverschlussjacke, die mädchenhaften Wimpern, das provozierend hübsche Gesicht und die Leinenservietten, in die seine Schulbrote eingewickelt waren, weckten bei seinen Mitschülern Neid und Abscheu. Zudem lernte er Klavier spielen, und manch einer hatte ihn schon, mit seiner Großmutter an der einen und einer Notenmappe in der anderen Hand, die Tschernyschewski-Straße entlang zur Musikschule gehen sehen – manchmal sogar, wenn er an einer seiner häufigen, nicht sonderlich schweren, aber langwierigen Krankheiten litt. Die Großmutter setzte die schlanken Beine wie ein Zirkuspferd und wippte im Gehen rhythmisch mit dem Kopf. Sanja hielt sich seitlich hinter ihr, wie es sich für einen Reitburschen geziemt.
In der Musikschule wurde Sanja, anders als in der allgemeinbildenden, bewundert – bereits in der zweiten Klasse spielte er in der Prüfung ein Stück von Grieg vor, das nicht einmal jeder Fünftklässler bewältigte. Ein weiterer Grund für die allgemeine Verzückung war Sanjas geringer Wuchs: Mit acht Jahren wurde er für ein Vorschulkind gehalten, mit zwölf für einen Achtjährigen. In der allgemeinbildenden Schule bekam er deshalb den Spitznamen Gnom. Und erntete weder Bewunderung noch Verzückung – nur beißenden Hohn. Dem langen Ilja ging Sanja bewusst aus dem Weg; nicht so sehr wegen dessen ständiger Spötteleien, die sich gar nicht gegen ihn richteten, sondern wegen des für ihn so demütigenden Größenunterschieds.
Zusammengebracht wurden Ilja und Sanja von Micha, als der im fünften Schuljahr in ihre Klasse kam. Sein Erscheinen rief Begeisterung hervor, denn als klassischer Rothaariger war er die ideale Zielscheibe für jeden Spottlustigen. Seinen im Nacken und an den Seiten kahlgeschorenen Kopf zierte ein golden leuchtender Schopf, er hatte durchscheinende himbeerrote Segelohren, die irgendwie an der falschen Stelle am Kopf angeschraubt schienen, zu dicht an den Wangen, weiße Haut und Sommersprossen; und selbst die Augen hatten einen orangeroten Schimmer. Zudem war er Brillenträger und Jude.
Die erste Tracht Prügel bezog Micha gleich am ersten September – nicht sehr heftig, nur zur Belehrung – in der großen Pause, auf der Toilette. Und zwar nicht von den notorischen Unruhestiftern Mutjukin und Murygin – die ließen sich dazu nicht herab –, sondern von deren Nachläufern und Nachahmern. Micha ließ die Prügel stoisch über sich ergehen, öffnete seine Schultasche, holte ein Taschentuch heraus, um sich den Rotz abzuwischen, und da schaute ein kleines Kätzchen aus der Tasche. Die Jungen nahmen es ihm weg und warfen es wie einen Ball reihum. In diesem Augenblick kam Ilja herein, fing das Kätzchen über den Köpfen der Volleyballspieler auf – er war der Größte in der Klasse –, und das Klingelzeichen beendete das spannende Spiel.
Im Klassenraum steckte Ilja das Kätzchen Sanja zu, der ihm gerade über den Weg lief, und der verstaute es in seiner Schultasche.
In der nächsten Pause suchten Mutjukin und Murygin, die Hauptfeinde des Menschengeschlechts, deren Namen später Anlass für ein Wortspiel sein sollten und die hier aus vielerlei Gründen Erwähnung verdienen, eine Weile nach dem Kätzchen, vergaßen es aber bald. Nach der vierten Stunde durften sie alle nach
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