Das gruene Zelt
ebenjener Freund des Bräutigams saß ihr gegenüber und stocherte in seinen Zähnen. Da war ihr vor Rührung etwas Überflüssiges herausgerutscht.
»Lisa wird es hier schwer haben«, wechselte sie abrupt das Thema.
Lisa hielt sich großartig. Wassili Innokentiewitsch und sein Sohn Alexej, Lisas Vater, waren hier Fremde, aber sie waren beide berühmte Ärzte, und das stellte sie in gewissem Maße den Musikern gleich. Lisas Mutter dagegen passte überhaupt nicht hierher. Die dicke, schlecht gefärbte Blondine fühlte sich auch selbst deplaziert in dieser Gesellschaft. Sie war Operationsschwester im Feldlazarett gewesen. Ihre an der Front geschlossene, zufällige und ungleiche Ehe war überraschend stabil: Um der gemeinsamen Tochter willen blieb der Mann. Der frischgebackenen Schwiegermutter des Bräutigams stand alles ins Gesicht geschrieben: Stolz, Grobheit, Verwirrung und Peinlichkeit. Lisa hatte die Mutter neben sich gesetzt, streichelte ihr hin und wieder die Hand und passte auf, dass sie sich nicht betrank.
Anna Alexandrowna saß rechts von Sanja, links von ihm saß ein Mann mit Löwenmähne und einem schwarz-gelb gefleckten Leoparden-Halstuch. Er sah nach Boheme aus – ein Sänger? Schauspieler? Vorgestellt hatte er sich als Juri Andrejewitsch.
Bevor die Hauptspeise aufgetragen wurde, nach der Hälfte des Mahls, als die Bouillontassen abgeräumt waren und der leere Teller, auf dem genau abgezählt vierundzwanzig winzige Piroggen gelegen hatten, erhob sich Sanjas Nachbar mit einem Glas in der Hand.
»Liebe Lisa, lieber Boba!«
Aha, ein enger Vertrauter, er nennt Boris Boba, registrierte Sanja.
Der Mund des Mannes war unglaublich beweglich, seine Oberlippe war von einer tiefen Furche zerteilt, die Unterlippe leicht vorgestülpt.
»Ihr habt den gefährlichen Weg der Ehe eingeschlagen! Vielleicht ist er weniger gefährlich als vielmehr unberechenbar. Ich wünsche euch, was meiner Ansicht nach das Wichtigste ist in der Ehe: Dass sie euch nicht hindert, die Musik wahrzunehmen. Es ist ein großes Glück, mit vier Ohren zu hören, vierhändig zu spielen, teilzuhaben an der Geburt neuer Töne, die es vor euch nicht gegeben hat. Musik, die unter den Händen entsteht, lebt nur wenige Augenblicke, bis die Wellen im Raum verebben. Doch die Kurzlebigkeit der Musik ist nur die Kehrseite ihrer Ewigkeit. Verzeihen Sie, Maria Weniaminowna, dass ich in Ihrer Gegenwart so etwas Dummes sage … Boba, Lisa, meine Lieben! Ich wünsche euch von ganzem Herzen, dass die Musik euch nie verlässt, dass sie sich euch immer tiefer und vollständiger offenbart.«
»Nora!«, ertönte eine tiefe, leicht knarrende Stimme. »Deine Piroggen sind einfach wunderbar! Gib mir bitte ein paar mit!«
Eleonora antwortete mit einem bitterbösen Blick:
»Ich lasse Ihnen welche einpacken, Maria Weniaminowna!«
»Das muss in deine Memoiren, Sanetschka. Merk es dir«, flüsterte Anna Alexandrowna.
Sanja saß ohnehin da wie in der ersten Parkettreihe, vor so vielen Berühmtheiten. Auch sein Nachbar mit dem Leopardentuch war offenkundig kein zufälliger Gast an der Tafel, er gehörte dazu – das sah man ihm an –, aber wer war er, wer? Die alte Frau, die gern Piroggen mit nach Hause nehmen wollte, Maria Weniaminowna, war Sanjas Idol, seit er sie als Kind zum ersten Mal in einem Konzert erlebt hatte.
Nach dem Essen – ohne die altrussischen »Bitter!«-Rufe – gingen alle hinüber ins Arbeitszimmer. Es war eine der letzten herrschaftlichen Wohnungen in der Marx-Engels-Straße, der früheren Maly-Snamenski-Gasse, hinterm Puschkinmuseum, und dies war vielleicht die einzige Familie im ganzen Land, die seit dem Bau des Hauses in ihrer Wohnung lebte, seit 1906 – Urgroßvater, Großvater, Vater, jetzt Boris –, niemand war vertrieben oder verhaftet worden, nie hatten sie »zusammenrücken« und die Wohnung mit Fremden teilen müssen. Die Familienlegende behauptete, hier und nicht in der Wohnung der Peschkowa habe Lenin Beethovens Sonate Nr. 23 gehört, gespielt von Issaj Dobrowejn, Eleonora Sorachownas jüngerem Bruder. Hier, im Nebenzimmer, seien die berühmten Worte gefallen, die Lenin gesagt oder die Gorki ihm zugeschrieben habe: »Eine wunderbare, übermenschliche Musik … Aber ich kann nicht oft Musik hören, sie hat eine zu starke Wirkung aufs Gemüt, man möchte nette Dummheiten sagen und den Menschen den Kopf streicheln, die in einer schmutzigen Hölle leben und trotzdem so etwas Schönes schaffen können …«
Doch die Dummheiten
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