Das gruene Zelt
waren ganz und gar nicht nett, und die Köpfe rollten von seinem Streicheln zu Tausenden.
All diese Geschichten, die nun auch Lisas Familienlegenden waren, erzählte sie Sanja leise auf dem Balkon. Zum Beispiel auch dieses Detail: Dobrowejn habe an jenem Abend keineswegs die Appassionata gespielt, sondern die Klaviersonate Nr. 14! Die Mondscheinsonate ! Die Kenner hätten das verwechselt.
Im Arbeitszimmer wurde geraucht. Ein Dienstmädchen brachte Kaffee auf einem Tablett.
» Very british «, flüsterte Sanja seiner Großmutter zu.
» No, jewish «, korrigierte sie ihn.
»Anjuta, das klingt irgendwie antisemitisch. Das habe ich an dir noch nie bemerkt.«
Anna Alexandrowna nahm einen tiefen Zug und blähte die schmalen Nasenflügel. Sie blies den Rauch aus und schüttelte den Kopf.
»Sanja, Antisemitismus ist bei uns im Land ein Privileg der Krämer und des Hochadels, unsere Familie aber gehört eindeutig zur Intelligenz, ungeachtet der adligen Abstammung. Ich mag die Juden, das weißt du doch.«
»Ich weiß. Du magst Micha. Mir ist es völlig egal, ob jemand Jude ist oder nicht. Aber merkwürdigerweise sind anderthalb meiner beiden besten Freunde Juden.«
»Eben. Vielleicht weil sie besonders sensibel sind?«
Antisemitismus lag Anna Alexandrowna tatsächlich fern, der Grund für ihre Stimmung war ein anderer. In ihrer Jugend hatte sie den lebenslang in sie verliebten Wassili abgewiesen, und nun hatte das Schicksal Rache genommen: Lisa, seine Enkelin, hatte ihren zarten Sanja abgewiesen und ihm einen schwammigen jüdischen Jungen vorgezogen.
Diese Theorie entsprach nicht ganz der Wahrheit, denn Sanja hatte Lisa nie etwas anderes angeboten als freundschaftliche Treue und seelische Nähe, Lisa hatte ihn also nicht abgewiesen. Aber Anna Alexandrowna war von jeher überzeugt gewesen, dass die beiden füreinander bestimmt seien. Tief im Innern verurteilte sie Lisas Entscheidung und hielt sie für karrieristisch und berechnend. Und das Jüdische passte irgendwie zu den unangenehmen Eigenschaften von Lisas Bräutigam.
Lisa trat mit einem Glas in der Hand zu Sanja – am Ringfinger funkelte der nagelneue Ehering. Am Arm führte sie Sanjas Tischnachbarn.
»Hast du Juri Andrejewitsch Kolossow schon kennengelernt? Er ist Professor für Musiktheorie, Sanetschka. Er ist der Mann, der alle deine musikalischen Probleme lösen kann.«
»Man trifft nicht so oft Menschen, die überhaupt musikalische Probleme haben.« Juri Andrejewitsch musterte Sanja mit lebhaftem Interesse.
»Ach, was für ein Unsinn, Lisa.« Sanja war verlegen und ärgerte sich über Lisa: Wie konnte sie so taktlos sein?
Mehr konnte Sanja nicht sagen, denn zum Flügel ging nun sie – die massige alte Dame mit der Tasche in der Hand, aus der die Kefirflasche ragte.
Eleonora hatte diesen Auftritt nicht geplant. Eigentlich sollte nun das Dessert folgen – Kaffee, Eis und kleine Kuchen, die das Dienstmädchen bereits aus der Küche brachte. Doch die alte Dame ignorierte das Kuchentablett und ging zum Flügel wie ein Boxer in den Ring – den Kopf gesenkt, die Arme locker am Körper baumelnd. Sie stellte die volle Tasche rechts neben das Pedal, kramte darin, zog ein paar Noten heraus und stellte sie aufs Pult. Dann setzte sie sich auf den Drehhocker, wiegte ihren großen Körper ein wenig vor und zurück und schaute an die Decke, als betrachtete sie dort eine schwer zu entziffernde Inschrift. Sie schloss die Augen – offenbar hatte sie die Mitteilung entschlüsselt – und schlug einen Akkord an, prall wie eine Melone. Dann einen zweiten und einen dritten. Sie waren seltsam losgelöst voneinander und stimmten auf etwas Ungewöhnliches ein.
»Setzen Sie sich«, flüsterte Juri Andrejewitsch. »Achtzehn Minuten, bei gutem Tempo.«
Solche Musik hatte Sanja noch nie gehört. Er wusste, dass es sie gab, eine feindselige, die Romantik ablehnende Musikrichtung, die alle Gesetze und Regeln missachtete; die Wellen der Missbilligung und Ablehnung hatten ihn schon erreicht, aber die Musik selbst hörte er zum ersten Mal. Er hörte etwas vollkommen Neues, verstand aber nicht, wie es aufgebaut war. Seine Hörerfahrung war von anderer Musik geprägt, die »normaler« war und weit klarer, vertrauter; er liebte deren inneren Ablauf, die nahezu unaufdringliche gegenseitige Berührung der Töne, genoss im Voraus die Auflösungen, erriet das Ende einer musikalischen Phrase …
Er wusste, wie dumm und unsinnig alle Versuche waren, den Inhalt von Musik in einer speziell
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