Das gruene Zelt
Hinsicht: Er erwies sich als treu und ehrlich – was er versprach, hielt er. Sein Leben war nicht leicht. Er arbeitete viel, war oft auf Dienstreisen und absolvierte ein Fernstudium. Das sei nötig für seine Entwicklung, sagte er. So entwickelte er sich fünf Jahre. Und brachte es zu einer respektablen Neubauwohnung in Kunzewo und zu einer guten Position. Das Vermächtnis des großen Lenin – lernen, lernen, nochmals lernen – vergaß er nie: Er besuchte diverse Qualifizierungslehrgänge und erlangte ganz nebenbei einen zweiten Berufsabschluss.
Das Einzige, was nicht gelang, waren Nachkommen. Ein böser Hohn des Schicksals. In einem Land, das die höchste Anzahl Abtreibungen pro Frau in der Welt aufwies, wollte es ausgerechnet bei Galja nicht klappen, wollte keine Frucht entstehen, das simple Wunder nicht geschehen.
In diesen für Olga so glücklichen Jahren hatte Tamara wenig Kontakt zu ihr – weil sie etwas verschwieg. Brintschiks heimliche Liebschaft war längst kein Geheimnis mehr, trotzdem sprach sie Olga gegenüber nie von Marlen, und das kränkte diese. Da ihre Frauenfreundschaft nicht durch die Erörterung von Intimitäten in Gang gehalten wurde, welkte sie dahin und verlor ihren Reiz. Selbst als Marlen mit seiner Familie überraschend die Ausreise nach Israel bekam, sagte Tamara kein Wort zu Olga. Dabei hätte es viel zu erzählen gegeben.
Dann brachen für Olga schwere Zeiten an. Ilja emigrierte. In Olgas Leben veränderte sich alles: Das Frühere hatte vollkommen seinen Sinn verloren, und ein neuer Inhalt war noch nicht gefunden. Iljas Abwesenheit war intensiver, als es seine Gegenwart gewesen war. Er wurde zu einer Zwangsvorstellung, und Olgas Gedanken zeigten wie eine durchgedrehte Kompassnadel ständig in Iljas Richtung. In diesen Monaten, da Olga sich noch nicht vom ersten Schlag erholt hatte, war Tamara an ihrer Seite. Anfangs sah das Ganze aus wie ein klassisches akutes Magengeschwür. Doch Tamara erkannte auch alle Anzeichen einer Depression: Olga lag mit dem Gesicht zur Wand, schwieg, verließ kaum das Bett, aß nichts und trank zu wenig. Die Medizinerin Tamara witterte Ungutes.
»Olga, du steckst in einer Sackgasse, du musst dich retten, du wirst verrückt, du wirst krank, reiß dir diese Liebe aus und wirf sie weg, so kannst du nicht weiterleben.«
Tamara versuchte, Olga aus der Depression zu holen. Erst ging sie mit ihr zu einem Psychologen, der im wahrsten Sinne des Wortes im Untergrund praktizierte – in einem Keller. Dann schleppte sie sie zu einem Psychiater. Der natürliche Lebensautomatismus, Tamaras Fürsorge sowie Antidepressiva brachten Olga wieder auf die Beine. Aber bald nach Iljas Abreise bekam Olga Blutungen. Tamara freute sich beinahe: Sie glaubte, die physische Krankheit würde die Psyche retten. Doch die ständigen Gedanken an Ilja und die Gespräche über ihn hörten nicht auf. Der Krankheitsherd wurde gelöscht, aber das Feuer der Kränkung, der Eifersucht und der Erbitterung brannte weiter. Die frühere, stets lächelnde, ausgeglichene Olga war kaum noch zu erkennen – Tränen, Geschrei, hysterische Anfälle.
Die Freundinnen nahmen all diese belastenden Dinge auf sich: Galja besuchte Olga regelmäßig, zeigte stilles Mitgefühl und stimmte ihr in allem zu. Das grausame Verhalten Iljas, der Olga verlassen hatte, passte bestens in ihr Weltbild, in dem alle Männer Schufte waren, alle schönen Frauen Huren, alle Vorgesetzten ungerecht und alle Freundinnen neidisch. Olga, die schöne Freundin, war eine Ausnahme. Genau wie Galjas eigene Geschichte: Ihr Mann war anständig – schaute keine fremden Weiber an und gab sein ganzes Gehalt seiner Frau. Doch von ihrem Eheglück schwieg sie lieber – um die Freundinnen nicht unversehens zu reizen.
Brintschik sah das Ganze in einem anderen Licht. Galjas einfältige Gedanken weckten in ihr nur Verachtung. Tamara hatte keine Zeit für Galja, sie rannte mit Olga von einem Spezialisten zum anderen. Sie stellten Krebs fest, der sich zeitgleich mit den medizinischen Untersuchungen entwickelte und diese überholte. Die Diagnose wurde relativ früh gestellt, aber die Krebszellen waren sehr aggressiv. Vielleicht boten Olgas Kränkung und Verbitterung der Krankheit Nahrung. Doch darüber sagte die Wissenschaft nichts.
Zeitweise verweigerte sich Olga der Behandlung, einmal floh sie sogar aus der besten Klinik, in der Tamara sie mit Hilfe ihrer eigenen und Vera Samuilownas Beziehungen untergebracht hatte. Schließlich machte Olga unter
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