Das gruene Zelt
Christin geworden war, und Galja, die Frau eines Bediensteten am Russischen Hof in Jerusalem, der dort einen scheinbar unbedeutenden, in Wahrheit aber hochwichtigen Posten bekleidete, Galja, die in den letzten Jahren einen Hass auf alle »Religiösen« der Welt entwickelt hatte, auf Popen, Rabbiner und sonstige Mullahs und zugleich auf den Orient mit seiner Verworrenheit, Geheimnistuerei, Hinterhältigkeit und Falschheit. Dafür aber ein herzliches Gefühl für Jesus Christus persönlich …
»Aber Israel selbst ist ein tolles Land. Schade, dass du nicht dorthin gegangen bist. Natürlich nur ohne all diese Religionen«, schloss Galja.
Tamara lachte.
»Wieso bekreuzigst du dann deine einfältige Stirn, Poluschka, du Dummchen? Das warst du und bist es geblieben. Wie kann man Jesus verehren, aber das Christentum ablehnen?«
Galja spannte ihr armes Gesichtchen an und widersprach zum ersten Mal in ihrem Leben:
»Doch, das kann man!«
Ihr Verhältnis war nun unverkrampft und vertraut.
Und Galja war kein bisschen beleidigt, sondern antwortete munter:
»Selber Dummchen, auch wenn du zweimal Doktor bist. Du bist wirr im Kopf.«
Sie und ihr Mann sollten noch drei Jahre dort dienen, aber es geschah ein Unglück, Gennadi wurde schwer krank, und Galja kehrte mit ihm endgültig zurück, verblüht, flachsblond, über und über voller kleiner Fältchen von der trockenen Sonnenglut.
Galja und Tamara wurden die engsten Freundinnen, die es je gab.
Aber die Geschichte muss noch zu Ende erzählt werden. Tamara Grigorjewna Brin, Doktor habil. und hochgeachtetes Mitglied der Wissenschaftsgemeinde, schleifte Galja zur endokrinologischen Untersuchung nicht in die Poliklinik, sondern in ein wissenschaftliches Forschungsinstitut, wo man einen Stoff gefunden hatte – ein Hormon oder etwas anderes –, der Galja in die Vene gespritzt wurde, dann noch ein zweites Mal, und Galja wurde schwanger. Mit sechsundvierzig Jahren, zum ersten Mal. Wäre es ein Mädchen geworden, hätte sie es Olga genannt. Aber es wurde ein Junge, und sie nannten ihn Jura.
Tamara ließ ihn mit dem stillschweigenden Einverständnis seiner KGB-Eltern taufen. Jeden Sonntag besucht sie nun Galja, um mit ihrem Patenkind spazieren zu gehen. Er ist ein lieber Junge, der Nachfahre zweier Klempner – blond und helläugig. Tamara geht mit ihm mal in die Kirche, mal ins Museum. Er nennt sie »Patentante«.
Nach dem Spaziergang trinkt Tamara dann Tee mit Gennadi. Wie Ilja es einst prophezeit hat. Gennadi ist natürlich nach wie vor ein Nager. Aber egal. Nach dem Infarkt hat er noch einen Schlaganfall erlitten und ist nur noch halb lebendig – der gesunde Teil schleppt den gelähmten mit sich. Galja tut ihr leid. Aber Tamara flüstert vor sich hin: Herr, lass mich meine Sünden erkennen und meinen Bruder nicht verurteilen … Und ihr ist leicht ums Herz.
Das Schleppnetz
llja stieg aus dem Taxi und schaute auf die Uhr: drei nach fünf.
Drei Minuten sind noch keine Verspätung, beruhigte er sich.
Vor dem Eingang des Hotels verlangsamte er seine Schritte. Es regnete leicht. Und war zugleich schwül.
Ich bin wohl verrückt! Ich habe Angst, zu spät zu kommen? Seit wann bin ich denn pünktlich? Er blieb vor dem Portier stehen, der mit seinem breiten Brustkorb und seinem massigen Hals aussah wie ein Opernsänger. Der Portier schaute ihn misstrauisch an.
Damals nach der Haussuchung war Ilja achtzehn Stunden in der Malaja Lubjanka festgehalten worden. Drei Männer hatten der Reihe nach mit ihm gesprochen: Zwei wollten ihn einschüchtern, der dritte versuchte, ihn anzuwerben, grobschlächtig, aber durchaus überzeugend. Sie trennten sich mit der Verabredung, sich noch einmal zu treffen. Nun, eine Woche später, war er angerufen und zu einem Treffen bestellt worden. Ins Hotel Moskau, siebte Etage, Zimmer 724.
Jetzt schalt sich Ilja für seine Dummheit: Er hätte nicht ans Telefon gehen, nicht zu dem Treffen erscheinen sollen oder verlangen, dass sie ihm eine schriftliche Vorladung schickten. Und sich auf keinen Fall pünktlich am verabredeten Ort einfinden sollen.
Ich schulde denen nichts, redete Ilja sich gut zu. Wenn sie mich einsperren wollen, tun sie das so oder so. Ich muss mich von meiner Angst freimachen. Ich muss. Ich bin sorglos, leichtsinnig, ein Luftikus … und ein bisschen dumm. Verzeihung? Das verstehe ich nicht. Was sagen Sie da? Nicht doch! Das kann nicht sein! Wirklich? Das hätte ich nie gedacht! So bereitete sich Ilja auf die Begegnung vor.
Der Portier
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