Das gruene Zelt
Vätern und Söhnen auskosten dürfen. Darum machte sie der Tochter keinerlei Vorwürfe – die Hoffnung, in ihr eine Gleichgesinnte zu finden, hatte sie sich längst aus dem Herzen gerissen. Dabei hatte sie das Mädchen nach ihren Vorstellungen und mit den besten Vorbildern erzogen. Hätte Olga ihre, Antoninas, Eltern gehabt, ungebildete religiöse Fanatiker – was hätte sie dann wohl gesagt?
Antoninas Augen funkelten, ihre Lippen waren fest zusammengepresst – in ihren Adern floss strenges griechisches Blut. In jungen Jahren war sie oft für eine Jüdin gehalten worden, was sie maßlos geärgert hatte. Dafür ähnelte sie nun einer byzantinischen Ikone: ein zorniges durchgeistigtes Gesicht ohne Erbarmen und Mitgefühl. Nur trug sie statt des Heiligenscheins eine gestrickte Baskenmütze oder eine klobige Persianermütze aus dem Atelier für Mitglieder des Schriftstellerverbands.
Antoninas erster Gedanke war, die Wohnung gegen zwei kleinere zu tauschen. Um weder ihre Tochter noch diesen Schwiegersohn sehen zu müssen. Dann besann sie sich: Die zweite Wohnung würde ja nach ihrem Tod an den Staat fallen. Und ihr Enkel? Er war ein guter, lieber Junge, hing sehr an seinem Großvater. Warum ihn um sein Erbe bringen? Nein, das musste nicht sein. Und außerdem – ich muss ein Auge auf die beiden haben, entschied die Schriftstellerin. Obwohl sie auch früher schon gewusst hatte, dass das Auge des Staates diesen kleinen Mistkerl schon lange beobachtete, und mit ihm auch Olga.
Fortan änderte Antonina ihren Lebensrhythmus: Auf die Datscha fuhr sie nun jedes Wochenende und an den Feiertagen, die Woche über schaute sie mehrmals bei der jungen Familie vorbei. Immer unangemeldet, damit sie stets mit ihr rechnen mussten und keine antisowjetischen Zusammenkünfte, keinen Lärm und kein Durcheinander veranstalteten.
Faina blieb in ihren Diensten, und wenn die leichtsinnigen Eltern abends aus dem Haus gingen, übernachtete sie manchmal sogar in der Generalswohnung. Olga und Ilja gingen viel weg, besuchten lauter neue, interessante Menschen.
Die Schulfreundinnen hatte das Leben getrennt. Sie sahen sich nur noch einmal im Jahr, am 2. Juni, Olgas Geburtstag. Hin und wieder telefonierten sie miteinander. Das hatte sich ganz von selbst ergeben. Jede hatte ihr eigenes Leben, ihr eigenes privates Geheimnis.
Tamara hatte außer ihrer geliebten Wissenschaft noch ihren geliebten Marlen, und Galja hatte außer ihrem Mann und ihrer Arbeit eine geheime Beschäftigung: Sie ließ in diversen Einrichtungen ihre Unfruchtbarkeit behandeln, von Homöopathen, von Kräuterkundigen, sogar von diversen Scharlatanen.
Das einzig Gemeinsame, das die Freundinnen noch hatten, war ihre schulische Vergangenheit, die immer weiter wegrückte und immer bedeutungsloser wurde.
Olga erlebte die glücklichsten Jahre ihres Lebens. Alles glitt dahin wie auf dünnem Eis: gefährlich und fröhlich. Jener Dozent und Autor, der Olga und Ilja 1966 vor dem Gericht zusammengeführt hatte, war nach siebenjähriger Haft entlassen worden und in die Emigration entschwunden.
Weder Olga noch Ilja sahen ihn in den Monaten vor seiner Emigration noch einmal wieder, was sie später lange bedauerten. Sie konnten einfach nicht zu ihm vordringen. Vielleicht wollte er wirklich niemanden sehen, vielleicht hatte seine Frau einen eisernen Vorhang herabgelassen. Er emigrierte irgendwie unbemerkt, ohne großes Aufsehen – offenbar zog die Regierung es vor, ihn loszuwerden. Außerdem kamen böse Gerüchte über seine angebliche Zusammenarbeit mit dem KGB auf.
Die Vertreter des Untergrunds jener Jahre, die Leser und Produzenten des Samisdat, waren miteinander zerstritten und schieden sich in kleine Gruppen – in Schafe und Ziegen. Allerdings war unmöglich herauszufinden, wer die Schafe waren und wer die Ziegen. Auch innerhalb dieser kleinen Herden herrschte keine Einigkeit. Die Kämpfe zwischen den »Westlern«, den »Slawophilen«, und den »Sechzigern« des neunzehnten Jahrhunderts waren nichts dagegen gewesen – jetzt war die Vielfalt weit größer. Die einen waren für Gerechtigkeit, aber gegen die Heimat, andere waren gegen die Regierung, aber für den Kommunismus, wieder andere strebten nach einem »wahren Christentum«; dann gab es noch die Nationalisten, die von der Unabhängigkeit ihres Litauen oder ihrer Westukraine träumten, und die Juden, die nur von Ausreise sprachen …
Und es gab die große Wahrheit der Literatur – Solshenizyn schrieb ein Buch nach dem anderen,
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