Das gruene Zelt
dem Tag, an dem Olga den Brief von Ilja erhalten hatte, bis zu dessen Tod.
Galja brachte Souvenirs mit – Jerusalemer Kreuze, Ikonen und Weihrauch. Olga interessierte sich nicht für diesen frommen Kram, das ganze Zeug wanderte weiter zu Tamara, die sich darüber freute. Olga war wieder die Alte geworden, fröhlich und energiegeladen.
Das dritte Mal kam Galja nach Moskau, als Olga nicht mehr lebte. Das wusste sie bereits. Sie rief Kostja an und fuhr in die Wohnung, die sich seit Olgas Tod nicht verändert hatte. Bis auf die schreckliche Unordnung. Galja hatte Kostjas Zwillingen prächtige Geschenke mitgebracht: Plastiksoldaten zum Aufziehen, batteriebetriebene Autos, eine langbeinige Puppe mit diversen Kleidern dazu.
Wieder zu Hause, weinte sie lange um Olga, dann rief sie Tamara an. Es war früher Abend, sie weinten zusammen am Telefon, und Galja bat, Tamara besuchen zu dürfen.
»Wann kann ich kommen? Jetzt gleich?«
Sie nahm ein Taxi und war eine Viertelstunde später bei Tamara. Nicht, dass sie viel geredet hätten – sie weinten den ganzen Abend, Arm in Arm, vor dem erkalteten Tee, ohne Licht zu machen. Erst weinten sie um Olga, die sie beide sehr geliebt hatten, dann um sich selbst, um all das, was das Leben ihnen versprochen und nicht gewährt hatte. Schweigen löste die Tränen ab, Tränen das Schweigen. Dann weinten sie umeinander, aus Mitgefühl für etwas, worüber sie nicht sprachen, und erneut um Olga. Schließlich fand Tamara eine halbe Flasche Kognak, sie tranken jede ein Glas, und Tamara stellte doch noch die wichtigste Frage: nach der Schreibmaschine. Denn mit dieser Schreibmaschine hatte der eigentliche Verrat angefangen.
»Hat Olga dir das nicht erzählt? Ich hab es ihr sofort gesagt, als ich es erfahren hatte. Mein Bruder Nikolai, der Himmel sei ihm gnädig« – Galja bekreuzigte sich schwungvoll, vom Nabel bis zu den Schultern –, »der hat die Schreibmaschine und den Archipel GULAG in die KGB-Kreisverwaltung gebracht. Er selber hätte das ja nie getan. Aber Raika, seine Frau, der Himmel sei auch ihr gnädig« – sie bekreuzigte sich erneut, aber weniger schwungvoll –, »die hat mich gehasst, deshalb hat sie ihn angestiftet. Gennadi hat später seine Anzeige gesehen. »Zur Unterbindung einer antisowjetischen Verschwörung von Volksfeinden und Ausweisung meiner Schwester Galina Jurjewna Poluchina aus der Wohnung«, hat er geschrieben. Unser Souterrain wurde doch geräumt. Raika hat gedacht, dass sie auf die Art mehr Quadratmeter kriegen. In der neuen Wohnung sind beide dann verbrannt. Im Suff.« Noch einmal bekreuzigte sie sich feierlich.
Offenbar hatten die gemeinsam vergossenen Tränen die unsichtbare Kruste von Tamaras Herz aufgeweicht. Und sie erzählte Galja, worüber sie so lange geschwiegen hatte. Als sie es erzählt hatte, rief sie in Gedanken laut aus: Lieber Gott, vergib mir!
Tamara hatte nach Marlens Ausreise nach Israel, vielleicht auch schon früher, eine große Liebe zu Jesus Christus erfasst, und das hatte vieles in ihr verändert.
Weshalb nur hatte sie dieses unglückliche Dummchen gehasst?
Galja hätte gern noch mehr getrunken, genierte sich aber. Zum ersten Mal war Olgas Freundin, die kluge Tamara, die sie nie recht beachtet hatte, so herzlich zu ihr.
Wahrscheinlich hat Oletschka uns versöhnt, dachte Galja gerührt.
Dann zeigte Tamara Galja ihre neue Wohnung, die längst nicht mehr neu war. In ihrem alten Zimmer auf dem Sobatschja-Platz war Galja ein paarmal gewesen, hierher war sie nie eingeladen worden. Alle Sachen stammten aus dem vergangenen Leben – das Klavier, der Sessel, die Bücherschränke und die Fotos. Nur die Bilder waren nicht mehr da. Galja fragte, wo die Bilder geblieben seien. Tamara lachte.
»Das ist dir aufgefallen? Die Bilder sind weg.«
»Ich erinnere mich an sie – da war so ein Engel mit großem Kopf, in Hellblau. Ich war ja mal bei dir, Brintschik, sogar zwei-, dreimal, Olga hat mich mitgeschleppt. Ich erinnere mich an die Bilder, und auch an deine Großmutter.«
Kurz nach eins brachte Tamara Galja zum Taxi. Beide fühlten sich glasklar – wie frischgespülte Milchflaschen in den Händen einer guten Hausfrau, nur dass sie nicht klirrten. Ihre ganze verborgene Antipathie hatte sich verflüchtigt. Sie wussten noch nicht – dass sollten sie einander später erzählen –, welche seltsamen Wege sie bis zu diesem Abend gegangen waren: Tamara, die Jüdin und einstige Zionistin, die doch nicht nach Israel ausgewandert und orthodoxe
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