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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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heftigem Druck von Tamara eine Chemotherapie und kam langsam wieder zu sich.
    Das Verhältnis zwischen den Freundinnen hatte sich verändert: Olga hatte ihre führende Rolle eingebüßt und schien das gar nicht zu bemerken. Nun hatte Tamara das Sagen. Galja ignorierte das veränderte Kräfteverhältnis. Sie war inzwischen perfekt darin, zu schweigen, Pausen auszuhalten, Fragen zu ignorieren, unbestimmt zu nicken. Tamara, die Galja schon immer für nichtswürdig gehalten hatte, konnte sie kaum ertragen.
    An die längst vergessene Geschichte mit der Schreibmaschine dachte nur noch Tamara.
    Zu dritt trafen sich die Freundinnen das letzte Mal 1982, zu Olgas Geburtstag auf der Generalsdatscha. Sie waren achtunddreißig Jahre alt. Galja und Tamara kamen einzeln, die eine mit dem Bus, die andere auf dem gewohnten Weg mit dem Vorortzug vom Rigaer Bahnhof. Vorm Tor der Datscha trafen sie aufeinander. Das Tor sah verwittert und morsch aus, das riesige Grundstück wirkte nun noch größer. Sie gingen durch die schief in den Angeln hängende Pforte. Auf dem Grundstück befand sich ein Teich, der lange nicht gesäubert worden und am Ufer mit Entengrütze bedeckt war. Ein halbverfaultes Boot spiegelte sich in der schwarzen Mitte des Teichs. Das einstöckige Haus war charmant verfallen. Der General war gestorben, Antonina Naumowna ihres Natschalnik-Postens enthoben, die Datscha sah aus wie ein heruntergekommenes Adelsgut. Begrüßt wurden die Freundinnen von Kostja. Er war groß, hatte blondes, gewelltes Haar wie Jessenin, das er ständig aus der Stirn strich. Äußerlich glich er seinem leiblichen Vater Wowa, seine Mimik und seine Sprache waren die von Ilja. Aber er war nicht so geistreich wie dieser. Sie küssten sich.
    »Mama ist da drin.« Er führte sie zur Veranda.
    Olga saß in einem Voltaire-Sessel, den Kopf an ein Bouclékissen gelehnt, die kleinen Füße in dicken Stricksocken auf einer Fußbank. Ihre Hand, die aussah wie aus Elfenbein geschnitzt, lag auf einem kleinen Büchertisch neben dem Sessel. Alles Überflüssige war aus Olgas Gesicht gewichen, geblieben waren nur pure intensive Schönheit und die Krankheit. Ein Seidentuch war fest um ihren kleinen Kopf geschlungen. Dann nahm sie es ab, und zum Vorschein kam ein wunderbarer rötlicher Igelkopf. Nach der Chemotherapie war ihr neues, fröhliches Kinderhaar gewachsen.
    Es war ein halbes Jahr vergangen, seit Olga die Klinik verlassen und sich kategorisch geweigert hatte, die medizinische Behandlung fortzusetzen. Ein Brief von Ilja hatte ein Übriges getan. Was nun geschah, hatte nichts mit Wissenschaft zu tun, eher mit Zauberei.
    Kostja brachte Brote mit Kaviar und Räucherwurst in die Veranda. Die Lebensmittelzuteilungen hat man Antonina Naumowna nicht gestrichen, dachte die aufmerksame Galja, die inzwischen auch an der Sonderversorgung teilhatte. Sie war an diesem Tag gekommen, um sich von Olga zu verabschieden, für immer, wie es damals schien. Aber sie fand nicht die rechten Worte, um davon anzufangen: In Tamaras Gegenwart fühlte sie sich nach wie vor gehemmt.
    Kurz bevor sie ging, sagte sie, dass sie sich für lange verabschiede, weil sie mit ihrem Mann ins Ausland gehe. Olga fragte ziemlich gleichgültig, wohin.
    Galja lachte auf.
    »Stell dir vor, in den Nahen Osten. Konkreteres sage ich nicht. Tamara würde mich beneiden.«
    Die Anspielung war mehr als deutlich. Tamara wandte ihren kugelförmigen Kopf mit der Afrofrisur ab. Sie hatte einen enorm, geradezu unproportional langen Hals, den sie, wie Olga einmal gescherzt hatte, um 360 Grad drehen konnte.
    Seit der Schulzeit hatte Tamara Galja als obligate Beigabe zur geliebten Olga betrachtet, als eine Art Freundschaftszoll. Und sie gleichmütig geduldet. Nie hätte sie Olga gestanden, was sie von Galja hielt: eine gemeine Plebejerseele, eine Klette und Parasitin, nicht klug, nicht begabt, kein guter Mensch … Und außerdem gefährlich. Tamara dachte immer an die Schreibmaschine.
    Tamara blickte in die Ferne. Auch dort sitzen sie also, die KGB-Leute, überall, überall … Selbst in Israel! Nirgends kann man sich vor ihnen verkriechen!
    »Aah«, sagte Olga, »in den Nahen Osten. Dann lern Französisch …«
    »Wieso Französisch?«, wunderte sich Galja. »Ich besuche einen Englischkurs …«
    »Gehst du für lange?«, fragte Olga.
    »Wahrscheinlich für drei Jahre.«
    Danach besuchte Galja Olga noch zweimal, wenn sie auf Urlaub kam – beide Male während Olgas sagenhafter Remission, die vier Jahre währte, von

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