Das gruene Zelt
sie gingen in den Samisdat, wanderten in vorgutenbergscher Form von Hand zu Hand, zerfledderte, brüchige, kaum lesbare dünne Blätter. Es war unmöglich, dem etwas entgegenzusetzen; so vernichtend war diese nackte und schreckliche Wahrheit über das eigene Leben, über das eigene Land, über Verbrechen und Sünde. Dann aber schrieb der Universitätsdozent, der Untergrundautor mit dem angeknacksten Ruf und dem Ruhm im Westen, klug, sarkastisch und scharfzüngig wie der Teufel, diese schamlosen Worte, nannte Russland eine »Hündin« und den großen Solshenizyn einen »halbgebildeten Patrioten«.
Tee und Wodka flossen in Strömen, die Küchen dampften von den politischen Diskussionen, so dass die Feuchtigkeit von der Wand hinterm Herd nach oben aufstieg, zu den versteckten Mikrofonen.
Ilja kannte alle und wusste alles, im Streit blieb er ruhig und schlichtete, denn er hatte stets ein harmonisierendes »einerseits« und »andererseits« parat. Auch zu Olga sagte er:
»Verstehst du, Olga, jede einseitige Sicht macht dumm. Man kann nicht nur auf einem einzigen Standpunkt stehen. Selbst ein Hocker hat vier Beine!«
Olga ahnte zwar nur, was er meinte, war aber ganz seiner Meinung: Stabilität als Idee entsprach ihrem Wesen.
Brintschik verfiel indessen unter Marlens Einfluss eine Zeitlang dem Zionismus, doch die Endokrinologie verhinderte, dass sie ganz in der jüdischen Bewegung aufging. Ihre Dissertation war fast fertig, und die Ergebnisse waren aufsehenerregend. Die Hormone ließen sich synthetisch herstellen, verrichteten in Reagenzgläsern tadellos ihr Werk und mussten nur noch dazu gebracht werden, das auch in einem lebenden Organismus zu tun, zunächst in einem Kaninchen.
Vera Samuilowna konnte sich nicht genug freuen an ihrer ehemaligen Doktorandin, die nach dem Studium eine nichtige Stelle als Laborantin mit einem miserablen Gehalt von achtzig Rubeln erhalten hatte und nun zu einer echten Wissenschaftlerin geworden war.
Tamara saß bis in die Nacht im Labor, an der Metrostation holte Marlen sie ab, der von elf bis zwölf immer mit seinem geliebten Setter Robik spazieren ging, den er nun noch mehr liebte, weil dessen Hundebedürfnisse es ihm ermöglichten, jeden Abend das Haus zu verlassen.
Es war eine große und heimliche Liebe, und alles daran war einzigartig und göttlich: die Vollkommenheit der Nähe, die sengende Hitze bei jeder Berührung, das absolute gegenseitige Verstehen ohne Worte, die Seligkeit des gemeinsamen Schweigens und die Wonne des Miteinanderredens. Marlen staunte über Tamaras unglaubliche Großmut, und sie betrachtete auch seine Fehler als Vorzüge und wurde nicht müde, seinen Geist, sein Wissen und zugleich seinen Edelmut zu bewundern.
Letztere Eigenschaft sah sie in seiner Treue zu seinen Kindern, zu seiner Familie, zu den jüdischen Traditionen, die er bei sich zu Hause eingeführt hatte. Seit einiger Zeit deckte seine russische Ehefrau jeden Freitagabend den Sabbattisch und sprach über zwei Kerzen auf Hebräisch das Gebet. Marlens kommunistische Vorfahren wären sicher aus dem Sarg gesprungen, doch die Häftlinge von Kolyma wurden nicht in Särgen begraben. Nur seine Mutter, die wie durch ein Wunder dem Lager entgangen war, weil sie vor Angst den Verstand verloren hatte, ruhte in einem Sarg auf dem Friedhof Wostrjakowo.
Die Eltern von Lida, Marlens lieber Frau, hätten sich sehr gewundert über die »Jüdisierung« ihrer Tochter. Aber erstens wussten sie nichts von den freitäglichen Vergnügungen der Familie, und zweitens liebten sie Marlen, weil er fröhlich und herzlich war, ganz gern ein Gläschen trank, allerdings maßvoll, und jederzeit jedem einschenkte. Die beiden arglosen, einfachen sowjetischen Menschen, er Ingenieur, sie Lehrerin, ahnten nicht, dass Marlen mit seiner Familie nach Israel wollte.
Marlen seinerseits nahm nach dem Sabbatabend Robik an die Leine und ging mit ihm in den nahe gelegenen Fünfgeschosser, zu Tamara, um den Sabbat ganz nach dem Gebot des Talmuds zu verbringen. Robik lag auf einem Läufer und hatte ebenfalls seine Freude – er nagte an einem extra für diese Gelegenheit bereitgehaltenen Knochen. Raissa Iljinitschna verkroch sich in ihr Neun-Quadratmeter-Zimmer und ging nicht einmal zur Toilette – als wäre sie gar nicht da.
In Galjas Leben ging es aufwärts. Ihr Mann hatte eine passende Stelle für sie gefunden, sie arbeitete nun im Sportklub ZSKA – in ihrem Beruf und mit einem guten Gehalt. Gennadi enttäuschte seine Frau in keiner
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