Das gruene Zelt
war einzigartig, in ihrer Armut wie in ihrer Großzügigkeit. Die Budgetmittel waren lächerlich gering, die Gehälter der Angestellten entsprachen – trotz Sonderzuschlägen – ebenfalls in keiner Weise der Qualifikation und der Zeit, die diese mit den Kindern verbrachten, und auch die Versorgung war völlig unzureichend, doch das alles wurde kompensiert durch die absolute Selbstlosigkeit der Pädagogen, ihre Hingabe an den Beruf und ihren Stolz auf die so deutlich erkennbaren Ergebnisse ihrer Arbeit. Und durch eine Atmosphäre von Liebe und Kreativität.
Etwa ein Drittel der Kinder stammte aus verschiedenen Kinderheimen, die Übrigen waren von den Eltern hergebracht worden, in der Hoffnung, ihnen den Kontakt mit der Außenwelt zu erleichtern. Die Heimkinder entwickelten sich übrigens besser, denn sie blieben über Jahre im Internat, während die anderen nach einem Jahr oder bestenfalls zwei Jahren wieder herausgenommen wurden.
Fast jeden Sonntag verbrachte Micha in Moskau – er besuchte Tante Genja und arbeitete seine aufgelaufenen Schulden ab, vom Einkauf bis zum Fensterputzen und Wischen. Seit Michas Studium, bei dessen Beginn die Verwandtschaft ihre langjährige finanzielle Unterstützung eingestellt hatte, war die Tante geizig und kapriziös geworden. Die Kochwurst musste unbedingt aus der Mikojan-Fabrik stammen, der Käse aus der Käserei von Poschechonje, die Milch aus Ostankino, und Fisch – lebender Karpfen oder gefrorener Zander – aus einem Laden, der sonntags geschlossen war, so dass Micha hin und wieder sonnabends kam, um diesen Karpfen zu ergattern.
Wenn er seine häuslichen Pflichten erledigt hatte, eilte er zu Aljona, und sie erwartete ihn entweder mit geschminkten Wimpern, was bedeutete, dass sie ihm zugewandt war, oder ohne Wimperntusche, was ihm sagte, dass sie nicht auf ihn eingestellt war. Warum sie so unbeständig war, wusste er nicht, er versuchte es herauszufinden, doch sie zuckte nur die Achseln, ihr Haar glitt über ihre Schultern, und sie selbst entglitt ihm, ohne etwas zu erklären.
Dann setzte er sich mit ihrem Vater Sergej Borissowitsch in die Küche und trank mit ihm Tee oder Wodka, je nach Tageszeit, je nachdem, ob Gäste da waren oder nicht und wie der Hausherr gelaunt war.
»Was für ein Mann! Was für ein Schicksal«, sagte Micha begeistert über Tschernopjatow. Dessen Vater, der aus Batumi stammte, gehörte zu den alten Kampfgefährten Stalins und war später als die Übrigen umgebracht worden, 1937, als sich der Führer der meisten seiner Jugendfreunde bereits entledigt hatte. Das erste Mal verhaftet wurde Sergej Borissowitsch als Schüler, kurz nach seinem Vater. Die erste Haft war nur eine Fingerübung – in einer Kolonie für Minderjährige. Mit achtzehn wurde er in ein Straflager überstellt. 1942 wurde er entlassen und in die Verbannung geschickt. In Karaganda lernte er Valentina kennen, die aus dem ALShIR kam – dem Akmolinsker Lager für die Ehefrauen von Vaterlandsverrätern. Unter den Tausenden Frauen waren die Mutter von Maja Plissezkaja, die Mutter von Wassili Axjonow, die Mutter von Bulat Okudshawa … Aljonas Großmutter mütterlicherseits war die Witwe eines hohen Parteifunktionärs aus Rjasan. Valentina fiel in die Kategorie TschSIR – Angehörige von Vaterlandsverrätern. Als ihr Vater erschossen und ihre Mutter verhaftet wurde, war sie siebzehn, und deshalb entging sie dem Schicksal der fünfundzwanzigtausend minderjährigen Angehörigen von Vaterlandsverrätern, die in Kinderheime gesteckt wurden. Sie folgte ihrer Mutter und kam in das Dorf Malinowka, in eine Arbeitssiedlung. Ihre Mutter starb nach einem Jahr.
Dort führte das Schicksal sie mit Sergej zusammen. Beide waren zwanzig Jahre alt, beide träumten von einer Familie. Sie heirateten sehr jung und retteten einander so. 1943 wurde Aljona geboren. 1947 durften sie nach Russland zurückkehren, und sie gingen nach Rostow am Don, wo sich Verwandte von Valentina gefunden hatten. Sergej legte die Reifeprüfung ab und nahm ein Studium auf. Nun begann das richtige Leben, von dem er geträumt hatte. 1949 wurde er erneut verhaftet. Stalins Arm ließ ihn nicht los. Erst 1954 kam er frei – und begann sein Leben zum dritten Mal …
Aljona hatte diese Geschichten bis obenhin satt. Sie schloss sich in ihrem Zimmer ein und hörte Musik. Manchmal saß sie stundenlang dort, führte raschelnd einen Stift über grobes Papier und entwarf Kaskaden bizarrer Ornamente, oder sie verließ das Haus, ohne ein Wort
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