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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Ergebnisse unmittelbar greifbar waren, wenn man die richtige Methode einige Jahre konsequent anwandte. Blinde wurden nicht sehend, Taube nicht hörend, die Taubstummen konnten nicht plötzlich sprechen, doch einige von ihnen lernten nach und nach, Wörter zu artikulieren, und fanden einen Weg in eine ihnen bis dahin verschlossene Welt. Und was für ein Glück war es, sie dabei an die Hand zu nehmen!
    Entgegen jeder Logik, ungeachtet seiner Herkunft und wider Erwarten war Micha bislang der erfolgreichste der drei Schulfreunde: Sanja hatte das Fremdspracheninstitut aufgegeben und studierte nun am Konservatorium, Ilja hatte das Institut für Filmtechnik längst vergessen, er war der überheblichen Ansicht, in Sachen Fotografie könne er selbst jedem etwas beibringen, und wollte gar nicht mehr studieren. Er hatte viele Bekannte und interessante Kontakte, besonders in der neuen demokratischen Menschenrechtsbewegung. Gemeinsam war Ilja und Micha noch immer das Interesse an der Poesie: Ilja lief nach wie vor durch die Antiquariate und hatte schon eine interessante Kollektion beisammen.
    Zu Ilja ging Micha auch, um von seinen phantastischen Erfolgen zu erzählen. Ilja reagierte kaum. Er freute sich an diesem Tag über einen eigenen Triumph – eine Neuerwerbung. Eine ganz besondere Rarität: eins der wenigen noch erhaltenen Exemplare des Sammelbandes Halleluja von Wladimir Narbut, erschienen 1912 in Sankt Petersburg und sogleich vom Heiligen Synod zur Vernichtung »durch Zerreißen« verurteilt.
    Micha schlug die erste Seite auf – da stand tatsächlich das Halleluja – der 148. Psalm.
    »Lobet den Herrn auf Erden, ihr Walfische und alle Tiefen; Feuer, Hagel, Schnee und Dampf, Sturmwinde, die sein Wort ausrichten, Berge und alle Hügel, fruchtbare Bäume und alle Zedern; Tier und alles Vieh, Gewürm und Vögel …«
    Ilja entwand ihm sanft das Buch.
    »Ja, das ist der bekannte Psalm, aber ich zeig dir was anderes, hier:
    Es singt das Moor, das faulig tote,
und nicht der stille, starre Fluss!
Mit ihrem Goldglanz hat die rote
Schicht Rost bedeckt mit einem Guss
das Wasser. Leicht mit langen Beinen
der Spinne Lauf über die Flut.
Es schwimmen vor uns grüne Wege,
doch nirgendwohin schwimmt das Blut! …
    »Tja, und wer kennt heute noch Narbut? Fortgespült! Wie so vieles! Kriegst du bei deinen Tauben da überhaupt mit, was los ist?«
    »Wovon redest du?«, fragte Micha, ein wenig erschrocken, dass ihm womöglich etwas Wichtiges entgangen war.
    »Zwei Schriftsteller sind verhaftet worden.«
    Von dieser Verhaftung wusste der wissbegierige Micha bereits aus nächtlichen Radiosendungen. Die Namen hatte er vergessen. Ilja nannte sie ihm. Sie hatten ihre Manuskripte in den Westen geschickt, und dort waren sie veröffentlicht worden.
    Micha äußerte den Wunsch, die Bücher zu lesen. Ilja sagte, er habe sie nicht, aber ein Freund besitze eine Fotokopie. Die hatte Ilja selbst angefertigt, doch das verschwieg er Micha vorsichtshalber. Er lebte im Moment wie auf einem Pulverfass und hatte alles aus dem Haus geschafft, auf Bekannte verteilt.
    »Aber du musst allein zu ihm fahren. Lass dir die Kopien geben und behalt sie einstweilen. Ich hole sie später ab, wenn sich die Wellen geglättet haben.«
    Ganz konspirativ riefen sie von einer Telefonzelle auf der Pokrowka aus den Freund namens Edik an. Ilja sprach laut und lässig in den Hörer.
    »Edik, ich hab gestern eine Wurst bei dir liegengelassen. Mein Freund kommt gleich vorbei und holt sie ab. Danke. Tschüss!«
    Der entlarvte Autor, der sich hinter dem Pseudonym Nikolai Arshak verbarg, war Literaturlehrer an einer Moskauer Schule und hieß Juli Daniel. Verrückt, genau wie Julitsch – ein Literaturlehrer! Und genau wie er ein ehemaliger Frontsoldat, verwundet und ebenfalls Philologe!
    Dieser Gedanke kam Micha schon vor der Lektüre. Er fuhr zu Edik, einem unglaublich langen Lulatsch – und bekam zwei »Würste«: Die eine hieß Hier spricht Moskau , die andere Sühne .
    Micha nahm die beiden dicken Kuverts mit. Und begann zu lesen.
    Es überlief ihn siedend heiß! Dabei hatte er Orwells 1984 schon gelesen. Ein geniales, ein unheimliches Buch. Aber es spielte in einer fremden, ausgedachten Welt, bei Daniels russischem Stoff aber war alles nah und vertraut. Und deshalb war Hier spricht Moskau unheimlicher.
    Man wusste nicht, was schlimmer war: ein Gesetz, das es jedermann erlaubte, jeden beliebigen Menschen zu ermorden, aber nur an einem bestimmten Tag, oder das Recht, das sich der

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