Das gruene Zelt
zu sagen und ohne Micha zu beachten.
Micha saß bei Sergej Borissowitsch und lernte. Du sagst etwas, er tunkt deine Äußerung wie ein Abziehbild in Wasser, und alles tritt klar zutage. Was für ein Talent! Und diese tiefe Kenntnis des Lebens, seiner Unmenschlichkeit, seiner Absurdität und Grausamkeit!
Und diese Menschen! Die Leute, die Sergej Borissowitsch besuchten, hatten bei aller Unterschiedlichkeit eines gemeinsam: Sie waren überzeugte, unversöhnliche Gegner des Staates, weil sie sein Wesen, seine tiefe Ungerechtigkeit genau kannten. Einer war Genetiker, ein anderer Philosoph, ein dritter Mathematiker. Und ihrer aller Mittelpunkt war Sergej Borissowitsch – ein harter, klarer, kluger Mann, der sich aktiv politisch engagierte.
Micha liebte ihn auch deshalb, weil er in männlicher Form all das an sich hatte, was ihn an Aljona so anzog: die kaum wahrnehmbaren aufwärts weisenden Fältchen in den Augenwinkeln, die abwärts weisenden Fältchen an den Mundwinkeln, die kaukasische Zierlichkeit und die Leichtigkeit der Bewegungen. Allerdings hatte Aljona von ihrer Mutter den zarten blassen Teint geerbt, Sergej Borissowitsch dagegen besaß dank der Beimischung von Tscherkessenblut einen dunklen Teint und dunkles Haar. Ein echter Mann – Vater, Bruder, Freund, der Michas ungestillter Vatersehnsucht entsprach. Sergej Borissowitsch behandelte Micha herzlich, aber leicht gönnerhaft. Doch so ging er mit allen um – ein wenig von oben herab.
Manchmal, wenn Aljona sich die Augen geschminkt hatte, erwies sie Micha ihre Gunst, und dann eilte er mit ihr, wohin sie wollte; sie machten Spaziergänge durch Moskau, ihre ein wenig schlaffe Hand – das lebendige Glück! – in der von Micha, und er berührte ihr Haar und atmete dessen Vogelgeruch ein. Er redete, was ihm gerade einfiel, und rezitierte Gedichte. Majakowski hatte er bereits hinter sich gelassen, Pasternak aufgesogen, und nun war er erfüllt von Mandelstam. Brodsky kam erst etwas später. Sie hörte schweigend zu, reagierte kaum. Ebenfalls – gönnerhaft.
In solchen günstigen Phasen – es gab drei während Michas Leben in Miljajewo: im Winter 1962, als er sich gerade im Internat einlebte, im Frühjahr 1963 und Ende 1964 – kam sie ihn hin und wieder plötzlich mitten in der Woche besuchen, übernachtete in dem Dienstzimmer, das man ihm als Wohnraum zugeteilt hatte, und Micha war außer sich vor unverhofftem Glück.
Umso bitterer und unerklärlicher waren für ihn die Phasen ihrer Abkühlung und Distanzierung. Dann stürzte er sich voll und ganz in die Arbeit, die hörgeschädigten Kinder füllten sein Leben vollkommen aus und ließen ihm kaum Zeit zum Traurigsein.
Auch die Internatskinder vermissten einen Vater, und an den beiden Männern im Pädagogenkollektiv, Gleb Iwanowitsch und Micha, hingen die Jüngsten wie Kletten. Die Älteren waren zurückhaltender, suchten aber ebenfalls die Nähe der beiden Lehrer.
Jakow Petrowitsch Rink bestellte Micha einmal im Monat zum Seminar und bezog ihn eifrig in das wichtigste Projekt seines Lebens ein: Seit fast einem Jahrzehnt kämpfte er für die Schaffung eines Zentrums für hörgeschädigte Kinder am pädagogischen Institut in Moskau oder an der Akademie für Medizin. Die Obrigkeit billigte sein Vorhaben und unterstützte es, doch der Staatsapparat war derartig träge, dass ein Menschenleben womöglich nicht ausreichen würde, um etwas Neues zu schaffen, es ging ja nicht um die Rüstungsindustrie oder den Kosmos. Rink sah in Micha einen seiner Zöglinge, die seine Sache fortsetzen würden.
Jakow Petrowitsch förderte Micha, gab ihm Artikel zu lesen, die zeitgenössische französische und amerikanische Forschungen zu seinem Thema referierten, und riet ihm schließlich, selbst einen Artikel zu verfassen, was Micha auch mit großem Enthusiasmus tat. Jakow Petrowitsch las das Resultat sehr aufmerksam: Der Junge konnte schreiben!
Rink wählte seine Schüler und Assistenten jahrzehntelang sorgfältig aus, prüfte sie auf Herz, Nieren und Verstand … Nachdem Micha drei Jahre freiwillige Sklavenarbeit im Internat geleistet hatte, trug Rink ihm eine Dissertation an, allerdings extern. Aber das war Micha ohnehin lieber – er hatte nicht die Absicht, sich von seinen Schülern zu trennen.
Micha legte die Doktorandenexamen erfolgreich ab und wartete nun auf die offizielle Zulassung. Die war im Grunde eine reine Formalität. Vor ihm lag echte wissenschaftliche Arbeit, und zwar keine theoretische, sondern eine, deren
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