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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Staat selbst nahm, jeden beliebigen Bürger an jedem Tag der Woche zu ermorden, in jedem Monat und auf viele Jahre im Voraus.
    Sühne war noch schrecklicher: Darin wurde beschrieben, dass man jemanden nicht nur töten, sondern auch auf eine andere, höchst raffinierte Weise vernichten konnte – indem man einen ehrlichen Menschen zum Spitzel erklärte, zum Denunzianten, und ihm so den Verstand raubte. Denn das Schlimmste war, er konnte niemandem das Gegenteil beweisen, hatte keine Chance, sich zu rechtfertigen.
    Viktor Wolski, ein vertrauter, sympathischer Mann, wird verleumdet und von seinen eigenen Freunden um den Verstand gebracht, weil sie die erfundenen Beschuldigungen glauben. Bestimmt hat er in der Zelle an Puschkins Verse gedacht:
    Nimm den Verstand mir nicht, o Gott!
Nein, besser Bettlernot und Spott
und Durst und Hungerpein!
(…)
Doch ach, wen die Vernunft verlässt,
der wird gemieden wie die Pest
und hinters Schloss gesteckt!
    Aber woher hatte Puschkin das gewusst? Hatte es etwa auch damals … Ja, natürlich, die Dekabristen. Auch damals hat es das schon gegeben – Denunziation, Verrat. Maiboroda, der Denunziant. Viele Jahre nach dem Prozess hat er sich umgebracht. Wahrscheinlich hat er all die Jahre darunter gelitten. Aber er hat ja wirklich denunziert, Viktor Wolski dagegen war unschuldig. Nein, lieber einem Verräter verzeihen, als einen Unschuldigen so zugrunde richten!
    Micha las die ganze Nacht so selbstvergessen, so hingebungsvoll, dass ihm am Morgen nicht gleich einfiel, dass er um acht im Internat sein musste.
    Selbst sein kürzlicher Erfolg ließ ihn nun fast kalt – vergessen waren die erfolgreich bestandenen Prüfungen, die verlockenden Perspektiven verschwommen. Das alles war auf einmal unwichtig. Er schämte sich sogar ein wenig dafür. Ja. Irgendwie schämte er sich, weil dieser Daniel, ein großartiger Schriftsteller, der tief in das Wesen des heutigen Lebens eingedrungen war, in Untersuchungshaft saß, und Gott allein wusste, was ihn erwartete.
    Aus seiner Leseohnmacht erwacht, begriff Micha, dass er zu spät zur Arbeit kam; wenn er sich sehr beeilte, konnte er es noch zur vierten Stunde schaffen, doch es war nicht mehr lange bis zur zweistündigen Pause zwischen den Vorortbahnen, und wenn er die letzte Bahn davor nicht bekam, dann war wohl der ganze Tag im Eimer. Er versuchte, im Internat anzurufen, aber die Verbindung war gestört.
    Die Kollegen sprangen für ihn ein, die Logopädin Katja ließ ihren Einzelunterricht ausfallen und übernahm zwei von Michas Stunden, die anderen beiden vertrat Gleb Iwanowitsch. Als Micha kam, war der Unterricht bereits vorbei, die Kinder hatten schon zu Mittag gegessen und Mittagsruhe gehalten, nun ging gerade die Vesper zu Ende. Im Speisesaal saß Gleb Iwanowitsch bei Dörrobsttee und Weißbrot – seiner Lieblingsleckerei.
    Micha bedankte sich stürmisch bei ihm. Gleb Iwanowitsch betrachtete seine Tat nicht als besonderes Heldentum – das war einfach so üblich. Aber Micha rechtfertigte sich hartnäckig, erzählte, er habe die ganze Nacht gelesen, und als er damit fertig war, sei es schon nach zehn Uhr morgens gewesen.
    »Aber die Bücher! Diese Bücher! Was für Bücher!«
    »Was sind denn das für Bücher?«, fragte Gleb Iwanowitsch zwischen dem zweiten und dritten Glas Dörrobsttee.
    Micha holte sofort die beiden dicken Kuverts mit den Fotopapierpacken hervor. Die Schrift auf den Kopien war ziemlich klein.
    Die Kinder machten Hausaufgaben unter Aufsicht einer jungen Lehrerin, die das erste Jahr unterrichtete und von Gleb Iwanowitsch ein wenig betreut wurde. Eine hübsche Lehrerin. Gleb Iwanowitsch schaute in den Raum, setzte sich in die hinterste Bankreihe und holte seine Brille hervor.
    Eine Viertelstunde darauf weckte er Micha, der im Zug nicht genug Schlaf bekommen hatte und nun in seinem Zimmer weiterschlief.
    Gleb Iwanowitsch setzte sich auf einen Hocker und schrie flüsternd:
    »Ist dir eigentlich klar, was du mir da untergeschoben hast?«
    Micha fühlte sich wie ein Vollidiot und versuchte, sich aus der Affäre zu ziehen, indem er chaotisches Zeug murmelte – etwas über die tiefe Wahrheit, die er in diesen Büchern entdeckt habe, und unbeholfene Entschuldigungen, dass er Gleb Iwanowitsch mit derart gefährlicher Literatur behelligt habe.
    Gleb Iwanowitsch steigerte sich vom Flüstern zu richtigem Schreien. Er warf Micha alle nur möglichen Sünden vor: Undankbarkeit gegenüber dem Staat, der ihn, das »Jiddenbalg«, vor dem Faschismus

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