Das gruene Zelt
Als er zurückkam, tadelte ihn die Tante ärgerlich, wobei sie den von einem schmalen Scheitel in zwei Hälften geteilten Kopf schüttelte:
»Du solltest dir diese Ella genauer ansehen. Sie ist gebildet und die einzige Tochter ihrer Eltern, und ihre Wohnung in Marjina Rostscha – davon kannst du nur träumen! Nun gut, sie ist ein wenig älter, das will ich nicht verhehlen! Aber sie ist doch eine von uns!«
Dabei wollte sie nichts weniger als in der Gemeinschaftswohnung allein zu bleiben – die früheren Nachbarn, anständige Menschen, waren einer nach dem anderen von Antisemiten und Dieben abgelöst worden.
Aber Micha interessierte sich im Moment ausschließlich für die Schachtel Konfekt. Er war nämlich zum Geburtstag eingeladen worden, und zwar von der schönen Aljona, einer Studentin aus dem ersten Studienjahr der Fakultät für künftige Kunstlehrer. Sie war noch ganz neu am Institut, aber sofort aufgefallen. Nicht so sehr wegen ihrer Schönheit – ein Gesicht, wie Boticelli sie liebte, stille Reinheit und jugendliche Geschlechtslosigkeit –, als wegen ihrer Distanziertheit und ihres Hochmuts. Alle wollten mit ihr befreundet sein, aber sie war wie Wasser, ließ sich nicht fassen. Und nun war sie selbst zu Micha gekommen und hatte ihn zu ihrem Geburtstag eingeladen!
Micha war zwar nicht der begehrteste Kavalier seiner Fakultät, denn zu jener Zeit studierten dort einige Gitarrenjünglinge, deren landesweiter Bardenruhm gerade begann. An die konnte Micha nicht heranreichen – er schrieb zwar auch Gedichte, konnte sie aber nicht zu Gitarrenakkorden singen. Dafür aber war er auffallend rothaarig, außerordentlich friedliebend und hatte Erfolg bei den Mädchen, besonders bei den auswärtigen, und keine Studentenparty kam ohne ihn aus.
O ja, er wäre im Laufschritt zu Aljonas Geburtstag geeilt, aber er hatte kein Geld, nicht einmal für das allerkleinste Geschenk, also beschloss er aus Stolz, nicht hinzugehen. Geld borgen konnte er von niemandem: Ilja war verreist, und Anna Alexandrowna schuldete er seit dem vorigen Monat fünfzehn Rubel. Und von Tante Genja nahm er kein Geld mehr, seit er ein Stipendium bekam.
Die hübsche Schachtel wäre eine Lösung! Kein sonderlich originelles Geschenk, aber besser als mit leeren Händen …
Er hörte sich die Belehrungen seiner Tante zum Thema Heirat mit einem jüdischen Mädchen an. Nachdem er das alte Lied geduldig über sich hatte ergehen lassen, fragte er, ob er das Konfekt haben dürfe, er brauche ein Geburtstagsgeschenk. Die Tante hatte andere Pläne mit der Schachtel, doch Micha nutzte seine kleinen Hebel und erinnerte sie wie nebenbei:
»Übermorgen fahre ich mit Ihnen auf den Friedhof, das habe ich nicht vergessen.«
Die Fahrt zum Friedhof Wostrjakowo ersetzte Genja diverse Vergnügungen: Theater, Kino, den Kontakt mit lebenden Verwandten. Aber sie fuhr nie allein an diesen entlegenen Ort.
Die Tante verstand seine Rechnung. Micha bekam die Schachtel und trabte mit dem trabenden Hirsch in die Prawda-Straße, wo Aljona wohnte. Er erreichte sein Ziel – und es geschah! Er verliebte sich. Unwiderruflich und total, wie einst in der Kindheit, als er das erste Mal bei Sanja war. Diesmal verliebte er sich in alles zusammen – in den Hausherrn, Aljonas Vater Sergej Borissowitsch Tschernopjatow, in seine Frau Valentina, in die Piroggen mit Kohl, den Rote-Bete-Salat und in die Musik »auf Knochen« 14) – ein Hüftgelenk mit feurigem Gershwin –, Musik, wie er sie noch nie zuvor gehört hatte. Und vor allem natürlich in Aljona, die bei sich zu Hause gar nicht so unnahbar oder hochmütig war, sondern im Gegenteil still und lieb und alle weiblichen Reize der Welt in sich vereinte.
14) In der Sowjetunion wurde illegal beschaffte Musik oft auf Röntgenplatten gepresst. Anm. d. Ü.
Selbstvergessen küssten sie sich auf dem Balkon, und nur eine wahnsinnige Zärtlichkeit zügelte die ebenso wahnsinnige Leidenschaft, die bei Michas erster Berührung des schlanken Arms, der zierlichen Hand, der willenlosen kindlichen Finger aufflammte.
Manche Menschen haben Talente, die simpel sind wie ein Apfel, eindeutig wie ein Ei – für die Mathematik, für die Musik, für das Malen, oder auch für das Pilzesammeln oder das Pingpongspielen. Bei Micha war das komplizierter. Er besaß keine ins Auge springenden Talente, aber einige gute Fähigkeiten: für die Poesie, für die Musik, für das Zeichnen.
Sein wahres angeborenes Talent aber war mit bloßem Auge nicht zu erkennen. Er
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