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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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war mit einem solchen Einfühlungsvermögen, einer so grenzenlosen, unendlich dehnbaren Fähigkeit zum Mitgefühl begabt, dass alle seine übrigen Eigenschaften diesem »allumfassenden Mitleid« untergeordnet waren.
    Das Studium an der philologischen Fakultät absolvierte er mühelos und mit Freude, doch sein Interesse für die Sonderpädagogik kam aus seinem Inneren, aus seiner empathischen Gabe. Er hatte von Anfang an vor, Literatur zu unterrichten, er wollte unbedingt die Tradition fortsetzen, er sah sich schon in die Klasse kommen und dabei die besten russischen Verse rezitieren, wie einst sein Lehrer Viktor Julitsch … einfach in den Raum hinein, in die Luft, ins All. Und die Jungen und Mädchen in den Bankreihen – einige! einige! – würden nach diesen Lauten schnappen, nach den Körnchen Sinn.
    Noch bevor Micha eine Arbeitsstelle zugewiesen bekam, ging er zu Rink, um ihn um Unterstützung für den Einsatz in einer Schule für Hörgeschädigte zu bitten. Denn – wer sollte diesen Kindern die Schätze von Poesie und Prosa nahebringen?
    Jakow Petrowitsch schaute Micha durch seine Brille aufmerksam an, fragte ihn aus, mehr nach dem Leben als nach dem Beruf, und schloss, dass dies der erste Fall in seiner Praxis sei, dass ein Philologe in die Sonderpädagogik gehen wolle.
    »Es gibt eine sehr gute Internatsschule für Taube und Taubstumme, dort könnten Sie sich nützlich machen und zugleich etwas dazulernen. Eine großartige Fördereinrichtung. Sie befindet sich in einem kleinen Ort im Moskauer Gebiet, dort müssten Sie hinziehen. Sie suchen gerade einen Lehrer für russische Sprache und Literatur. Fahren Sie hin, sehen Sie sich um. Wenn es Ihnen zusagt, reden wir weiter«, schlug Jakow Petrowitsch vor.
    Für die Fahrt brauchte Micha fast drei Stunden – mit der Vorortbahn bis Sagorsk, weiter mit dem Bus, auf den er ziemlich lange warten musste, anschließend eine halbe Stunde zu Fuß durch den Wald.
    Es war Frühling, ein leichter Regen fiel, durch den der Wald in blassem Grün leuchtete. Der Regen brachte das Gras vom Vorjahr leise zum Rascheln, das frische Gras drang bereits durch das welke Laub und schien beim Wachsen einen feinen Ton zu erzeugen. Ein Vogel stieß in unterschiedlichen Intervallen nervöse Schreie aus. Vielleicht war es auch kein Vogel, sondern ein anderes Tier. Micha dachte daran, dass die Bewohner des Internats diese lebendigen Laute nicht hören konnten. Andererseits hörten Stadtbewohner sie auch nicht, weil der Lärm der Stadt alles übertönte. In seinem Kopf entstanden Verszeilen:
    Aus Stille, Regen und dem frischen Gras
wird plötzlich irgend so ein Ton geboren,
ta-ra-ra-ta….ta-ra-ra-ta …
und Ohren, Poren, bohren …
    Er kam nicht weiter …
    Aus Stille, Regen und dem frischen Gras,
da keimen Sinfonien und Gesänge …
ta-ra-ra-ta….ta-ra-ra-ta …
Gedränge, Überschwemmung …
    Na ja, so ungefähr … Er liebte präzise Reime, und es quälte ihn, dass sie alle schon vor ihm vielfach benutzt worden waren. So galoppierte er auf ausgetretenen Pfaden und genoss diesen Prozess, ahnte aber bereits, dass man so nicht weit kommen konnte. Doch Joseph Brodsky hatte seinen Triumphzug durch die Welt noch nicht angetreten, seine von langem Atem getragenen Zeilen und seine totale Verachtung für das »tick-tack« und »bumm-bumm« hatten Micha noch nicht dazu gebracht, sein armseliges, wenngleich begeistertes Dichten einzustellen.
    Dann war der Wald zu Ende, vor Micha lag ein Anwesen. Ein einstöckiges Holzhaus auf einem Hügel, umringt vom einem Dutzend kleiner, fast ländlicher Gebäude. Von der alten Umzäunung war nicht mehr viel erhalten, niedrige Pfosten mit abgewetzten Kugeln standen zwischen grauen Lattenzaunabschnitten. Das Tor war längst verschwunden. Dicke Linden in unregelmäßigen Abständen markierten die Reste einer alten Allee. Es war kurz nach Mittag, nirgendwo war ein Mensch zu sehen. Micha ging über den aufgeweichten, noch kahlen Boden zur Treppe, klopfte an die Tür, doch niemand öffnete. Er wartete eine Weile, plötzlich wurde die Tür aufgerissen – vor ihm stand eine alte Frau mit einem Eimer, in dem ein Putzlappen schwamm.
    Er lachte und grüßte. Tante Genja, die sklavisch an Vorzeichen und geheime Omen glaubte, hätte dies als einen glücklichen Beginn betrachtet: Der Eimer war voll, wenn auch mit Schmutzwasser.
    Tatsächlich lief nun alles bestens. Im Direktorenbüro tranken drei Frauen und ein älterer Mann mit kleinem Schnurrbart Tee und aßen Konfitüre

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