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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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dazu. Micha wusste, dass die Direktorin eine Frau war, und dachte, dass dies wohl die Armenierin sein musste – auch sie trug einen kleinen Schnurrbart.
    »Guten Tag, ich möchte zu Margarita Awetissowna. Ich komme auf Empfehlung von Jakow Petrowitsch …« Kaum hatte er den Namen ausgesprochen, da lächelten sie alle, schenkten ihm Tee ein und füllten ihm Konfitüre in ein Glasschälchen.
    Dann klopfte es an der Tür, und ein etwa zwölfjähriger Junge kam herein und teilte ihnen in Gebärdensprache etwas mit.
    »Was ist passiert, Sascha?«, fragten sie fast im Chor. »Na, sag nur, du kannst es. Sprich nur, sprich, du kannst das gut.«
    »Hu-hu-hu we-e-aufe«, brachte er mühsam hervor.
    Alle vier umringten ihn, und eine kleine Frau mit einem dünnen, um den Kopf geschlungenen Zopf fragte, wobei sie jeden Laut deutlich artikulierte:
    »Welcher Hund? Notschka oder Ryshik?«
    »Not-ka.« Der Junge strahlte.
    »Notschka. Mach dir keine Sorgen, Sascha. Er kommt wieder.«
    Der Junge machte erneut eine Gebärde – er legte beide Hände aneinander und hob sie. Das war eine Frage.
    »Wenn er Hunger hat, kommt er wieder«, sagte die Frau mit dem Schnurrbart.
    Ja, das ist die Direktorin, entschied Micha.
    Der Junge sagte noch etwas mit den Händen.
    »Hör mir zu, Sascha. Wenn er Hunger hat, kommt er wieder.«
    Beim »u« stülpte sie die Lippen ziemlich weit vor.
    Der Junge nickte und ging.
    »Sascha ist erst ein halbes Jahr bei uns. Er hat sehr spät mit dem Lernen angefangen«, sagte die Frau mit dem Zopf stolz.
    »Ja, erst ein halbes Jahr«, bestätigte die Schnurrbärtige.
    »Fünf Monate, Margarita Awetissowna«, berichtigte sie Gleb Iwanowitsch. Die Frau mit dem Schnurrbart war also tatsächlich die Direktorin.
    Sie tranken Tee, und nach zehn Minuten beschloss Micha, wenn sie ihn hier nicht als Lehrer nehmen sollten, würde er trotzdem hier arbeiten, egal als was: als Hausmeister, als Heizer, als Sportlehrer.
    Sie führten ihn durch die Klassenräume – es waren vier. Und insgesamt nur zweiundvierzig Kinder.
    In einem Raum stand ein Mädchen an der Tafel und erzählte etwas mit den Händen. Die anderen hörten-sahen zu.
    »Wir lehnen die Gebärdensprache nicht prinzipiell ab. Aber wir meinen, wenn man früh anfängt, die Kinder nach unserer Methode zu unterrichten, lernt ein großer Teil von ihnen sprechen.«
    »Ich möchte gern hier arbeiten. Ich habe vom zweiten bis zum siebten Lebensjahr im Heim gelebt, bis Verwandte mich zu sich nahmen. Ich bin natürlich nicht ganz der Richtige für Sie, ich weiß nicht … Ich habe angefangen, die Gebärdensprache zu lernen, aber ich bin noch nicht sehr … Wenn Sie mich nehmen würden …«
    Sie nahmen ihn mit offenen Armen.
    Er unterschrieb einen Arbeitsvertrag, den jeder andere Absolvent für miserabel gehalten hätte, und trat seine Stelle an, ohne den Urlaub in Anspruch zu nehmen, der ihm nach dem Studium zustand.
    Mit Michas Umzug ins Internat waren alle unzufrieden: Tante Genja, die am Tag seiner Abreise weinte wie um einen Toten, obwohl er schon am Sonntag wiederkommen wollte, Marlen, der nun gewisse Fürsorgepflichten für seine Mutter übernehmen musste, sogar Aljona, obwohl das Verhältnis zwischen ihnen, das periodisch mal aufflammte, mal erlosch, gerade wieder an einem Tiefpunkt war, auch sie zuckte mit den schmalen Schultern – ein Internat? Wozu? Und Aljonas Vater, der kluge Tschernopjatow, war der Meinung, je näher eine Arbeitsstelle am Zentrum liege, desto richtiger sei sie, die Provinz sei generell kein Ort zum Leben.
    Besorgt zeigte sich auch Anna Alexandrowna, allerdings nicht wegen der Karriere, sondern wegen der Hygiene. Sie meinte, Micha würde in Schmutz versinken und in kürzester Zeit verlausen. Sanja dachte daran, wie lange man von diesem Krähwinkel bis zum Konservatorium brauchte, sagte aber nichts. Ilja war enttäuscht, weil er den Freund zu einem Zeitpunkt verlor, da sie wunderbar hätten zusammenarbeiten können.
    Micha unterrichtete nun taube und taubstumme Kinder in russischer Sprache und Literatur. Er arbeitete mit einer Logopädin zusammen, und von Anfang an lief alles wunderbar. Micha dachte sich etwas aus, das ihm sogar das Lob von Jakow Petrowitsch einbrachte. Er führte die Rhythmuslehre in den Unterricht ein, klatschte mit den Händen die verschiedenen Versmaße vor, und seine Schüler brummten die Jamben und Trochäen mit. Wie glücklich sie über ein Lob des Lehrers waren, und wie großzügig Micha sie damit beschenkte!
    Die Schule

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