Das gruene Zelt
knusprig. Xenia Nikolajewna hatte sie für ihren Sohn in mundgerechte Happen geschnitten. Diese kleine, manchmal vollkommen überflüssige Fürsorge versetzte sie zurück in die Zeit, als Viktor noch ein kleiner Junge gewesen war, sie selbst jung und schön und ihr Mann noch am Leben.
Der Tee war stark, wie ihn ihr verstorbener Mann gemocht hatte. Das friedliche Frühstück wurde unterbrochen von einer Regierungsmeldung – über die Erkrankung Stalins. Xenia Nikolajewna schlug die Hände zusammen, Viktors Gesicht zuckte. Er schwieg eine Weile, dann sagte er:
»Er ist verreckt. Todsicher. Sie werden uns eine Woche für dumm verkaufen und es dann verkünden.«
»Das kann nicht sein.«
»Wieso nicht? Das hat es schon gegeben. Als Alexander I. in Taganrog gestorben war, fuhr der Kurier mit der Nachricht nach Petersburg, und nachdem er Moskau passiert hatte, befahl Golizyn, Meldungen über den Gesundheitszustand des Imperators zu verbreiten. Eine Woche lang trugen die Schutzleute diese Meldungen in die Häuser.«
»Was du nicht sagst! Woher weißt du das?«
»Zuerst bin ich in den Aufzeichnungen von Fürst Kropotkin darauf gestoßen, und dann habe ich in der Historischen Bibliothek die Meldungen selbst gefunden. Setzen Sie eine Trauermiene auf, Madame. Es kommen Veränderungen.«
»Ich habe Angst«, flüsterte sie. »Ich habe Angst, Viktor.«
»Nicht doch. Schlimmer wird’s nicht werden.«
Er ging in die Schule. Im Lehrerzimmer herrschte dumpfes, besorgtes Schweigen. Gesprochen wurde, wenn überhaupt, nur im Flüsterton. Er grüßte, nahm das Klassenbuch und ging zu seinen Schülern.
Er öffnete die Tür zum Klassenraum und begann schon auf der Schwelle zu rezitieren:
Sagt der eine die Kavallerie,
meint der andere die Infanterie,
antwortet der dritte die Flotte
sei auf dem dunklen Erdenrund das Schönste.
Ich aber sage:
das, was man lieb hat!
Wie einfach ist es, jedermann
das zu erklären: Denn Helena, an Schönheit viele
Menschen überstrahlend, verließ ihren Mann,
einen der besten,
stieg in ein Schiff, um nach Troja zu segeln,
dachte nicht an ihr Kind, nicht an ihre liebsten Erzeuger
nur ein einziges Mal; nein, es entführte sie,
die ihr nicht widerstand,
Kypris. Denn das Herz ist wie Wachs in den
Händen der Göttin, lenkbar des Menschen Verstand.
»Na, wer von euch kann mir sagen, was Lyrik ist?«, fragte der Lehrer, als das Klappen der Bankdeckel verklungen war.
Die Klasse erstarrte. Viktor Juljewitsch genoss diesen Augenblick – er hatte gelernt, diese Stille des Nachdenkens zu erzeugen.
»Da geht es um Liebe«, sagte ein Mutiger.
»Richtig, aber das ist nicht alles. In der Lyrik geht es um jedwede menschlichen Gefühle, um das Innenleben des Menschen. Klar, natürlich auch um die Liebe. Und um Trauer, um Einsamkeit, um die Trennung von einem geliebten Menschen. Oder nicht nur von einem Menschen … Es gibt ein berühmtes Gedicht, ebenfalls vor unserer Zeitrechnung entstanden, über den Tod eines Spatzen. Ja, im Ernst …
Trauert, ihr Götter der Liebe! Trauert, Menschen,
die ihr liebt oder die ihr euch geliebt wisst! –
Tot ist meiner Geliebten Spätzchen, jener
Sperling, meiner Geliebten Augenweide,
den sie mehr als das eigne Leben schätzte.
Niedlich war er und kannte sie so gut, wie
sie die leibliche Mutter nicht viel besser
kennen konnte. Und nie verließ er ihren
Schoß. Nein, hierhin und dorthin hüpfte er, wenn
mit der Herrin, allein mit ihr, er schwätzte.
Doch nun muss er den finstern Weg hinabgehn,
jenen Weg, von dem keiner je zurückkam.
Sei verwünscht, du verwünschtes Reich der Schatten!
Alle Schönheit der Erde fällt zum Raub dir,
so wie du uns den Sperling hast entrissen.
Unabwendbarem Schicksal fluch ich, armes
Spätzchen, denn mit ganz rotgeweinten Augen
trauert jetzt ihrem Liebling nach mein Mädchen.
Auch das ist ein Beispiel für ein lyrisches Gedicht.
Wir haben ja schon über Homer gesprochen, ein wenig in der Ilias gelesen, etwas über Odysseus erfahren. Und wir wissen, was ein Epos ist. Die Wissenschaftler glauben, dass epische Werke früher entstanden sind als die Lyrik. In dem ersten Gedicht, das ich euch vorgetragen habe, es ist im siebten Jahrhundert vor unserer Zeit entstanden, wird Helena erwähnt. Habt ihr erraten, dass das dieselbe Helena ist, deretwegen der Legende zufolge der Trojanische Krieg ausbrach? Mit ihr wird in dem Gedicht die Geliebte verglichen. Dieser schönen Helena , der Frau des Königs Menelaos, die von Paris geraubt wurde, begegnen wir sogar
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