Das gruene Zelt
Knochenbau, und von der Wologdaer Großmutter die hellen nordischen Augen.
Viktors früh verwitwete Mutter Xenia Nikolajewna, die einzige noch lebende Nachfahrin zweier im Ergebnis der Revolution ausgestorbener Familien, wischte sorgfältig den Staub von den Bücherregalen, bekämpfte die Motten und pflegte die orangen Ringelblumen, die fast das ganze Jahr über auf ihrem Fensterbrett blühten.
Nur zwei Aufgaben im Leben waren ihr noch wichtig: das Bemuttern ihres Sohnes und das Bemalen von Seidentüchern für eine Behindertenwerkstatt. Außerdem briet sie wunderbare Buletten und arme Ritter. Nach der Rückkehr ihres Sohnes von der Front lernte sie schnell, für Viktor alles zu erledigen, was er mit einer Hand schlecht tun konnte: Sie schnitt ihm das Brot, bestrich es mit Butter, wenn sie welche hatten, und morgens schlug sie ihm den Seifenschaum zum Rasieren.
Eines war Viktor Juljewitsch absolut fremd: Stolz auf seine Herkunft. Er empfand sich als Paria und als blaublütig zugleich, und diese judenfeindlichen Zeiten waren ihm vor allem ästhetisch zuwider: Hässliche Menschen in hässlicher Kleidung benahmen sich hässlich. Das Leben jenseits der Bücherwelt war eine Beleidigung, in Büchern dagegen pulsierten lebendige Gedanken, Gefühle und Wissen. Der Kontrast war unerträglich, und Viktor verkroch sich immer mehr in die Literatur. Nur die Kinder, die er unterrichtete, versöhnten ihn mit der ekelerregenden Wirklichkeit.
Und die Frauen. Er mochte hübsche Frauen. Sie huschten stets nur kurz durch sein Leben, wie ein Fest, meist nacheinander, manchmal parallel, und er fand sie alle gleichermaßen schön.
Auch er gefiel den Frauen. Er sah gut aus, und selbst seine körperliche Versehrtheit besaß einen gewissen Reiz – was er relativ spät begriff. Die Schönheiten ließen sich nicht nur deshalb mit dem Invaliden ein, weil es nach dem Krieg weniger Männer gab, als für die Reproduktion nötig gewesen wären, wie es ein Veterinär ausdrücken würde. Er war für sie deshalb besonders anziehend, weil sie irrtümlich glaubten, mit seiner Behinderung werde er ihnen ganz und gar gehören.
Das war falsch. Er wollte niemandem irgendwelche Rechte auf sich einräumen – das aber gehörte offenbar zu einer Ehe.
Schriftsteller wie Bunin, Kuprin und Tschechow mit seiner Dame mit dem Hündchen hatten über die »irdische Liebe« geschrieben, die bis zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts von der russischen Literatur gemieden worden war – über unvermittelt aufflammende Leidenschaft, über Ehebruch und Intimität; über all das, was das neunzehnte Jahrhundert als »schmutzig« bezeichnet hatte.
Keiner dieser Autoren kannte das Hauptproblem der Nachkriegszeit, von dem die Anhänger der erhabenen Liebe in gleichem Maße betroffen waren wie Paare mit den primitivsten Absichten: Wo? Wo sollte ein Mann, der mit seiner Mutter in einem Zimmer wohnte, in einer Stadt, in der es keine Hotels gab, in die man wie Bunins Leutnant eine Dame zum gemeinsamen Erleben eines Sonnenstichs führen konnte, ja, nicht einmal eine Kajüte, in die man sich zurückziehen konnte, wo sollte so jemand ein Stelldichein arrangieren? Allenfalls im Sommer draußen in der Natur, aber die Sommer sind kurz in Russland.
Ein Mädchen mit nach Hause zu nehmen, hinter den Gobelinvorhang, der die männliche Seite des Sohnes von der weiblichen der Mutter trennte, war unmöglich. Ein privates Zimmer für Rendezvous zu mieten war geschmacklos und zu teuer, einen alleinstehenden Freund um seinen Wohnungsschlüssel zu bitten recht peinlich. Dass Viktor Juljewitsch so heikel war, schützte seine Moral.
Im Übrigen hatte er Glück, seine Freundinnen besaßen alle Wohnraum. Die geschiedene Lidotschka mit dem schönen Hals und der wundervollen Brust, die er hin und wieder besuchte, bewohnte allein ein Zimmer. Die jungenhafte, quirlige kleine Tanja, die selbst auf der Straße wie auf Sprungfedern hüpfte – ihr Mann war Schauspieler irgendwo in Saratow –, hatte ein Zimmer in der Sretenka-Straße gemietet, für Viktor bequem zu Fuß zu erreichen. Außerdem gab es noch Verotschka, eine Französischübersetzerin, eine gebildete, kluge Frau, mit der er ins leere Sommerhaus ihrer Eltern fuhr.
Keine dieser Frauen kam je zu ihm nach Hause – Xenia Nikolajewna ertrug keine fremden Frauen. Mutter und Sohn lebten einträchtig zusammen, und Viktor Juljewitsch dachte nicht an Veränderungen.
Am Morgen des 2. März frühstückten sie arme Ritter, innen weich und außen
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