Das gruene Zelt
einzige Freund, mit dem sich Viktor gern traf, war Mischka Kolesnik, sein einstiger Nachbar aus demselben Häuserblock. Die beiden waren ein komisches Nachkriegspärchen: Mischka fehlte ein Bein, Viktor ein Arm. Sie nannten sich »drei Arme, drei Beine«.
Mischka war Biologe geworden und hatte ein hübsches Mädchen geheiratet, ebenfalls aus ihrem Hof, aber etwas jünger.
Sie war Ärztin, arbeitete im städtischen Krankenhaus und hätte Viktor gern verheiratet. Ständig wollte sie ihn mit einer ihrer unverheirateten Kolleginnen verkuppeln. Aber Viktor wollte nicht heiraten. Nach seiner Rückkehr aus Kalinowo hatte er sich in gleich zwei Schönheiten verliebt, die eine hatte er in der Bibliothek kennengelernt, die andere hatte sich im Museum an ihn gehängt, als er mit seiner Klasse dort war. Mischka scherzte: Dein Glück, Viktor, dass die Frauen dir paarweise nachlaufen, wäre es nur eine, hätte sie dich längst ins Joch gespannt.
Doch »ins Joch gespannt« wurde er nur von seiner Arbeit. Ihn fesselte der Umgang mit den dreizehnjährigen Jungen. Sie hatten nichts gemein mit ihren Altersgefährten auf dem Land. Diese Moskauer Jungen mussten nicht pflügen und säen, keine Pferdegeschirre reparieren, und die bäuerliche Verantwortung für die Familie war ihnen fremd.
Sie waren normale Kinder – sie trieben im Unterricht Unfug, bewarfen sich mit Papierkügelchen, bespritzten einander mit Wasser, versteckten gegenseitig ihre Schultaschen und Bücher, waren geizig, prügelten sich, schubsten einander wie Hundewelpen, doch dann hielten sie plötzlich inne und stellten echte Fragen. Anders als ihre Altersgefährten vom Dorf hatten sie eine richtige Kindheit, aus der sie nun unabwendbar herauswuchsen. Neben den Pickeln gab es auch andere, der höheren Nerventätigkeit geschuldete Anzeichen für ihr Erwachsenwerden: Sie stellten die »verfluchten Fragen«, litten an der Ungerechtigkeit der Welt, hörten ihrem Lehrer zu, wenn er Gedichte rezitierte, und zwei, drei Jungen in der Klasse versuchten sich sogar selbst im Dichten. Der erste, der Viktor ein Blatt Papier mit gereimten Zeilen brachte, war Micha Melamid.
»Verstehe, verstehe«, sagte Viktor Juljewitsch und lächelte. Und dachte bei sich: Jüdische Jungen sind besonders empfänglich für die russische Literatur.
Die halbe Klasse begriff nicht recht, was der Literaturlehrer von ihnen wollte. Die andere Hälfte folgte ihm auf Schritt und Tritt. Er bemühte sich, alle gleich zu behandeln, hatte aber seine Lieblinge: den emotionalen, beinahe lächerlich aufrichtigen Micha, den agilen und vielseitig begabten Ilja und den verschlossenen und kultivierten Sanja. Das unzertrennliche Trianon.
Er hatte selbst einmal zu einem solchen Dreigespann gehört und dachte oft an seine Lieblingsfreunde aus der Studienzeit, Shenja und Mark, die in den ersten Kriegswochen gefallen waren. Sie waren damals der Kindheit noch nicht entwachsen, hatten den Kopf voller falscher Romantik und infantiler Verse – Brigantina, Brigantina! Dieser Rotschopf Micha war wie ihr jüngerer Bruder, und wenn Viktor genau hinsah, konnte er dessen künftiges schwieriges Schicksal ahnen. Nein, nein, er hatte keine hellseherischen Ambitionen, er machte sich nur Sorgen.
Sie schrieben das Jahr 1953, der März war noch nicht angebrochen, die antisemitische Kampagne war in vollem Gange. In diesen scheußlichen Zeiten stöhnte und bangte das jüdische Achtel in Viktor Juljewitsch, und sein georgisches Viertel schämte sich und litt.
Viktor Juljewitsch war ein Mischling, er trug einen georgischen Namen und galt laut Ausweis als Russe, hatte aber nur wenig russisches Blut in seinen Adern – es war vermischt mit deutschem und polnischem. Sein georgischer Großvater war mit einer Deutschen verheiratet gewesen; sie hatten zusammen in der Schweiz studiert und dort Viktors Vater Julius bekommen. Der Stammbaum seiner Mutter Xenia Nikolajewna war nicht weniger exotisch. Ihr Vater, Spross eines verbannten Polen und eines jüdischen Mädchens, einer der ersten ausgebildeten Feldscherinnen, hatte eine Popentochter geheiratet, und dieses Priesterblut war der russische Anteil.
Vom georgischen Großvater hatte Viktor die Musikalität geerbt, von der deutschen Großmutter – die ihre Herkunft sorgfältig verborgen und sich 1912, gleich nach der Ankunft in Tiflis, umsichtig als Schweizerin ausgegeben hatte – die rationale Denkweise und das gute Gedächtnis, vom jüdischen Urgroßvater das üppige Haar und den zarten
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