Das gruene Zelt
bei heutigen Dichtern. So wanderte sie vom Epos in die Lyrik – als Bild der schönen Frau, die Männerherzen erobert.
In der Antike, als die menschliche Kultur gerade erst entstand, war das Wort noch viel enger mit der Musik verbunden. Verse wurden laut vorgetragen, dazu wurde auf einem Musikinstrument gespielt, das Lyra hieß. Daher kommt das Wort Lyrik. In zweieinhalbtausend Jahren hat sich vieles verändert, heute werden Gedichte selten mit musikalischer Begleitung vorgetragen, dafür sind neue Genres entstanden, in denen Wort und Musik untrennbar miteinander verbunden sind. Na, nennt mir ein paar Beispiele …«
Es klingelte, doch sie blieben alle sitzen, wie berauscht von seinen Worten. Warum klappten sie nicht die Bankdeckel hoch, sprangen nicht schreiend auf, rannten nicht zur Tür, sich gegenseitig den Ausgang versperrend – nur schnell weg! In den Flur, in die Garderobe, hinaus!
Warum hörten sie ihm zu? Warum war es für ihn selbst so spannend, ihnen etwas beizubringen, was sie gar nicht brauchten? Ihn erregte das Gefühl einer subtilen Macht – sie lernten vor seinen Augen denken und fühlen. Was für eine Oase in all der öden Hässlichkeit!
Drei Tage darauf kam die Nachricht von Stalins Tod, und Viktor Juljewitsch empfand eine kleinliche Befriedigung, weil er es als erster geahnt hatte. Zudem gehörte er zu jener absoluten Minderheit, die den großen Verlust keineswegs zu betrauern gedachte. Seine Eltern hatten ihn jeden Sommer in den Ferien nach Georgien geschickt, das letzte Mal war die ganze Familie kurz vor dem Tod seines Vaters in Tbilissi gewesen, 1933.
Von seinem Vater wusste er, wie sehr ihre ganze georgische Verwandtschaft Dshugaschwili verachtete, fürchtete und hasste.
Er war tot, der Tyrann. Ein Titan. Ein Wesen der archaischen Art, aus der Unterwelt – furchteinflößend, mit hundert Armen, hundert Köpfen. Und Schnauzbart.
In der Schule fiel der Unterricht aus, die Schüler wurden zu einem Appell versammelt. Viktor Juljewitsch führte seine sechste Klasse in Zweierreihen in den dritten Stock, und Micha, der ihm nicht von der Seite wich, drückte ihm eine mit großen lila Buchstaben bedeckte Heftseite in die Hand. Er hatte ein Gedicht geschrieben.
Die Worte Stalins Tod waren eingerahmt.
Weint nur, ihr Menschen, wo immer ihr lebt auf der Erde,
weint, Sekretärinnen, Ärzte und andre im Arbeiterheer.
Stalin ist tot, nirgends werden wir finden
einen wie diesen, den gibt es nie mehr.
Sei gegrüßt, Catull, dachte Viktor Juljewitsch lächelnd und sagte leise:
»Ärzte, das verstehe ich, aber warum Sekretärinnen?«
»Na ja, meine Tante Genja war Sekretärin. Aber ich kann auch ›Fabrikarbeiter‹ schreiben«, korrigierte Micha rasch. »Darf ich es vorlesen?«
Tja, dieses Engagement würde zu nichts Gutem führen.
»Nein, Micha, davon rate ich Ihnen ab. Ja, ich rate Ihnen dringend davon ab.«
Micha wollte nach seinem Blatt greifen, doch der Lehrer faltete es zusammen und presste es an seine Brust.
»Darf ich es behalten, zur Erinnerung?«
»Natürlich!« Micha strahlte.
Der Saal war voll. Im Radio lief Beethoven. Verweinte Lehrerinnen nahmen neben der Stalinbüste Aufstellung. Das Schulbanner aus tiefrotem Samt senkte sich in Falten zum Boden. Viktor Juljewitsch stand mit angemessener Miene hinten. Am Fenster litt Borja Rachmanow aus der Achten, weil er von seinen Kameraden gegen das Fensterbrett gedrückt wurde. Es bohrte sich schmerzhaft in seine rechte Hüfte, doch er konnte nicht ausweichen. Das war ein kleiner Vorgeschmack auf das, was ihm drei Tage später widerfahren würde.
Nach dem feierlichen Appell mit allgemeinem Schluchzen – die Lehrer gaben ein Beispiel aufrichtigen Kummers, und die Kinder fielen in den traurigen Ton ein – wurden sie zurück in ihre Klassenräume geführt. Die Direktorin versuchte ständig, die Kreisschulbehörde zu erreichen, um sich zu vergewissern, ob der Unterricht für mehrere Tage ausfallen sollte. Aber dort war dauernd besetzt. Erst um eins hieß es, die Schüler sollten wegen der Trauer nach Hause gehen; wann der Unterricht wieder beginne, werde später mitgeteilt.
Viktor Juljewitsch entließ seine Jungen mit der Bitte, sie sollten zu Hause bleiben, sich nicht auf der Straße herumtreiben, ja, am besten gute Bücher lesen.
Sanja Steklow befolgte den Rat des Lehrers mit Freuden. Er war vermutlich der Einzige, bei dem zu Hause eine Gesamtausgabe der Werke Tolstois stand, und in den vier Trauertagen verschlang er alle vier Bände
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