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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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eine Flasche. Vorm Einschlafen las er den einzigen Autor, der ihm nie langweilig wurde.
    Außer Literatur musste er auch Geographie und Geschichte unterrichten. Mathematik und Physik gab der Direktor, ebenso wie die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer, die sich allesamt trotz unterschiedlicher Bezeichnungen mit der Geschichte der KPdSU beschäftigten. Die übrigen Fächer – Biologie und Deutsch – unterrichtete eine verbannte Petersburger Finnin. Neben ihrer nationalen Herkunft gab es in ihrer Biographie einen weiteren »dunklen Fleck« – vor dem Krieg hatte sie an der Landwirtschaftsakademie bei Professor Wawilow gearbeitet, dem trotzigen Weismanianer und Morganisten, der sich nicht von deren Theorien zur Genetik losgesagt hatte.
    Alles in Kalinowo war ärmlich, im Überfluss gab es nur unberührte, wenngleich wenig reizvolle Natur. Und die Menschen waren womöglich besser als in der Stadt, nahezu unberührt von deren Lastern.
    Der Umgang mit den Dorfkindern zerstreute Viktors studentische Illusionen. Das Gute und Ewige blieb natürlich gültig, aber die Materie des Alltags war grob: In geflickte Tücher gehüllte Mädchen, die vorm Unterricht schon das Vieh und die kleinen Geschwister versorgt hatten, und Jungen, die die gesamte schwere Arbeit auf dem Acker verrichteten – was sollten die mit all den kulturellen Werten? Was nützte ihnen das Lernen mit hungrigem Magen, die Zeitverschwendung für ein Wissen, das sie unter keinen Umständen je brauchen würden?
    Ihre Kindheit war längst vorbei, sie waren durchweg schon fast richtige Männer und Frauen, und selbst diejenigen, die von ihren Müttern gern in die Schule geschickt wurden, schienen sich zu genieren, weil sie sich mit nutzlosen Dingen beschäftigten, statt ernsthaft zu arbeiten. Deshalb verspürte auch der junge Lehrer eine gewisse Unsicherheit – ob er sie nicht tatsächlich vom Wesentlichen im Leben abhielt mit überflüssigem Luxus. Wozu Radistschew? Wozu Gogol? Wozu letztendlich Puschkin? Er sollte sie lesen und schreiben lehren und so rasch wie möglich nach Hause schicken, zum Arbeiten. Auch sie selbst wollten nur das.
    Damals dachte er zum ersten Mal über das Phänomen Kindheit nach. Wann sie begann, stand außer Frage. Aber wann endete sie? Wo war die Grenze, jenseits derer der Mensch erwachsen war? Offensichtlich endete die Kindheit auf dem Land eher als in der Stadt.
    Die Dörfer in Nordrussland hatten schon immer am Rande des Hungers existiert, aber nach dem Krieg waren sie endgültig verarmt, die gesamte Arbeit verrichteten die Frauen und die Kinder. Von dreißig Männern des Dorfes waren nur zwei von der Front heimgekehrt – einer ohne Beine, einer mit Tuberkulose, und der starb nach einem Jahr. Die Schuljungen wurden kleine Männer und begannen früh ein Arbeitsleben, ihre Kindheit war ihnen gestohlen worden.
    Aber wozu etwas aufrechnen – den einen war die Kindheit gestohlen worden, anderen die Jugend, wieder anderen die Freiheit. Viktor Juljewitsch nur eine Kleinigkeit: ein Arm und die Promotion.
    Nach Viktors dreijähriger Beinahe-Verbannung – in diese Gegend hatte man zur Zarenzeit Leute wie ihn verbannt, kluge junge Menschen mit intaktem Selbstwertgefühl – schlossen seine Schüler die siebte Klasse und damit die Schule ab, und er kehrte nach Moskau zurück, zu seiner Mutter in die Bolschewistski-Gasse, in das Haus mit dem Ritter in einer Nische überm Eingang.
    Die erste Moskauer Schule, in der ihm eine Stelle als Literaturlehrer angeboten wurde, lag wunderbarerweise nur zehn Minuten Fußweg von seinem Haus entfernt, ganz in der Nähe der Historischen Bibliothek, die ihn, weil er ganz ausgehungert war nach Büchern, noch mehr anzog als die hauptstädtischen Theater und Museen.
    Er versuchte, seine Kontakte aus der Studienzeit wiederzubeleben. Er traf sich mit Lena Kurzer, die im Krieg Militärdolmetscherin gewesen war, aber ein richtiges Gespräch kam nicht zustande. Auch die Begegnungen mit zwei weiteren Kommilitoninnen waren ein Reinfall. Es war eine verschwiegene Zeit, die nicht zu Offenheit animierte. Geredet wurde erst einige Jahre später. Von den drei Kommilitonen, die den Krieg überlebt hatten, war einer Parteifunktionär geworden, einer arbeitete an einer Schule. Viktors Kontakt mit ihnen beschränkte sich darauf, dass sie zusammen eine Flasche leerten, und war damit auch erschöpft. Der dritte, Stas Komarnizki, war unerreichbar: Er saß im Gefängnis, für einen Witz oder für harmloses Geschwätz. Der

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