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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Krieg und Frieden , wobei er allerdings einige Seiten überblätterte. Als er den ersten Band durch hatte, gab er ihn Micha, doch der schlug ihn nicht einmal auf. Er hatte in diesen Tagen andere Sorgen – Tante Genja lag nach einem Herzanfall flach, Minna hatte, wie stets in schwierigen Situationen, Bauchweh, und Micha erfüllte drei Tage lang unentwegt Aufträge seiner Tante, die vor übertriebenem Kummer beinahe durchdrehte.
    Ilja pfiff auf den Rat des Lehrers ebenso wie auf die Bitten seiner Mutter. Das aufregende Gefühl, etwas Wichtiges zu erleben, zog ihn auf die Straße. Am frühen Morgen des 7. März nahm er seinen Fotoapparat und verließ das Haus mit dem Gefühl eines Jägers, der große Beute wittert.
    Drei Tage lang blieb Viktor Juljewitsch im Haus und ließ auch seine Mutter nicht hinaus. Sie hatten kein Brot mehr, aber er sagte:
    »Mama, wer redet von Brot? Wir haben nicht mal mehr Wodka.«
    Tatsächlich hatte er die von seiner Mutter gehortete Flasche bereits am Abend des 5. März geleert. Er wollte erst wieder hinausgehen, wenn Stalin beerdigt worden war.
    Er hüllte sich in einen gestreiften Pyjama, versorgte sich mit einem Stapel Bücher und legte sich auf seine Liege hinter dem Gobelinvorhang. Höchstes Glück!
    Am 9. März um zehn Uhr wurde der Tote aus dem Säulensaal getragen – kleine Männer in dicken Mänteln mit Persianerkragen, die Führer des Staates, trugen den Sarg hinaus.
    Da verließ Viktor das Haus, um Brot und Wodka zu kaufen. Es waren kaum Menschen auf der Straße. An den Straßenrändern standen noch Lastwagen, und alles sah aus wie nach einem Hochwasser – zertrampelte Schuhe, Mützen, Aktentaschen, für immer getrennt von ihren Besitzern, herausgebrochene Laternenpfähle, zerschlagene Erdgeschossfenster. In einer Einfahrt war eine Wand voller Blut. Ein totgetrampelter Hund lag in einem Torbogen. Puschkin-Verse kamen Viktor in den Sinn:
    … lief er landein. Gar wohlvertraut
sind ihm die Straßen hier. Er schaut …
Und kennt nichts mehr: o Bild voll Grauen!
    Er rezitierte den Ehernen Reiter bis zum Schluss:
    Auf seiner stillen
gebrochnen Schwelle lag Eugen …
Sie gruben ihn, nicht wissend, wen,
daselbst auch ein, um Gottes willen.
    In einer Nebenstraße, ziemlich weit von seinem Haus entfernt, fand er einen geöffneten kleinen Laden. Eine Treppe führte hinab in das Souterrain. Mehrere Frauen unterhielten sich leise mit der Verkäuferin und verstummten, als er hereinkam. Als hätten sie gerade über mich gesprochen, dachte Viktor amüsiert.
    Eine der Frauen erkannte ihn und bestürmte ihn mit der Frage:
    »Viktor Jurjewitsch, was ist da bloß passiert? Die Leute sagen, die Juden hätten dieses Chodynka organisiert? Haben Sie vielleicht etwas gehört?«
    Sie war die Mutter eines Schülers aus der Zehnten, er erinnerte sich nicht genau, von wem. Einfache Frauen nannten ihn oft »Jurjewitsch«, und das ärgerte ihn. Doch jetzt überkam ihn überraschend eine eigenartige, ihm eigentlich wesensfremde Friedfertigkeit.
    »Nein, meine Liebe, ich habe nichts dergleichen gehört. Wir sollten heute Abend den einen oder anderen Schluck zum Gedenken trinken und weiterleben wie zuvor. Und die Juden? Das sind Menschen wie wir. Zwei Flaschen Wodka bitte, ein Weißbrot und ein halbes Schwarzbrot. Ach ja, und zwei Packungen Pelmeni …«
    Er nahm seine Waren, zahlte und ging. Die Frauen blieben verwirrt zurück: Vielleicht waren ja doch nicht die Juden schuld, sondern irgendwer anders … Die ganze Welt war schließlich voller Feinde. Alle beneideten das sowjetische Volk, hatten Angst vor ihm. Und schon nahm das Gespräch eine andere, stolze Richtung.
    Viktor saß mit seiner Mutter an dem brandfleckigen runden Tisch, zwischen ihnen stand eine Karaffe Wodka. Xenia Nikolajewna hatte die Pelmeni aus der Küche geholt, sie waren wie immer verkocht, und den Topf auf einen gusseisernen Untersetzer gestellt. Viktor schenkte ein. Da klingelte es an der Tür. Dreimal – für Schengeli.
    Viktor ging öffnen. Vor ihm stand ein wundersames Wesen – ein schwarzes Spitzentuch über eine Fellmütze geworfen, in einem Männermantel mit Waschbärkragen, eingehüllt in eine Wolke aus Naphtalin- und Katzengeruch: Die Cousine seines verstorbenen Vaters war aus der Vergangenheit aufgetaucht, die langbeinige Schönheit, die Sängerin, Stickerin und gescheiterte Nonne Nino, die stets Wärme und Fröhlichkeit verströmte.
    »Du? Ist das die Möglichkeit?«
    Er hatte sie zuletzt vor rund zwanzig Jahren gesehen.

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