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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Damals hatte er in ihrem Haus in Tbilissi gewohnt, das zu seinen Kindheitserinnerungen gehörte, wenn auch mit einem gewissen Zweifel: Hatte dieses Haus wirklich existiert, oder hatte er nur davon geträumt? Aber sie war noch dieselbe, nicht einmal sehr gealtert, die liebe Nino, die liebe, gute Nino …
    »Viktor, mein Junge, du hast dich überhaupt nicht verändert! Ich hätte dich in jeder Menschenmenge erkannt!«
    »Mein Gott, Nino, wie geht es dir? Wo kommst du her?«
    »Lass mich erst mal rein, wir müssen doch nicht hier draußen stehen!«
    Sie küssten sich, umfassten einer des anderen Kopf, trennten sich, um einander genauer zu betrachten, und küssten sich erneut. Xenia Nikolajewna stand erstaunt in der Zimmertür. Wen küsste Viktor da ab?
    Mein Gott, Nino! Die georgische Verwandtschaft, die geliebten Cousinen ihres verstorbenen Mannes, aus der Vergangenheit, aus der fernen Vergangenheit …
    War das möglich? Nun komm doch rein! Zu Tisch, zu Tisch! Ach, ja, Hände waschen!
    »O ja, wenn man vom Friedhof kommt, muss man sich als erstes die Hände waschen!« Ihr georgischer Akzent war noch stärker als früher, ihre Stimme klang fröhlich und triumphierend.
    Sie wusch sich die Hände, ging zur Toilette, dann wusch sie sich noch einmal die Hände. Xenia Nikolajewna hatte schon einen dritten Teller hingestellt, ebenso alt, angeschlagen und voller Risse wie alle anderen.
    Viktor schenkte Nino Wodka ein.
    »Erst einmal auf die Befreiung! Das war wie vierzig Jahre durch die Wüste … Er ist krepiert! Wir haben überlebt!«, sagte sie entgegen der Tischordnung, die in Georgien strikt beachtet wurde. Eine Frau, noch dazu ein Gast, sprach nie als erste!
    Sie tranken. Nino trennte mit der Gabel eine viertel Teigtasche ab und schob sie sich äußerst diskret in den fast geschlossenen Mund. Da erinnerte sich Viktor, dass sie ihm all das beigebracht hatte: essen, trinken, hereinkommen, sich setzen, grüßen. Das hatte er vollkommen vergessen. Und machte doch alles genau so, wie sie es ihn einst gelehrt hatte.
    »Wie hat es dich denn hierher verschlagen, Ninotschka?«
    Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, verschränkte die Arme hinterm Kopf und lachte wie ein junges Mädchen. Dann warf sie das Lächeln ab, nahm ihr schwarzes Spitzentuch von der Schulter, wickelte es sich um den Kopf, stand auf, hob ihre wundervollen, nicht alternden Arme und stieß einen langen, immer höher steigenden Klageschrei aus. Schließlich fiel der Ton aus der Höhe herab – es war eine Totenklage, der uralte, ohne Worte auskommende Klageschrei, der alles enthielt – Kummer, Schmerz und Triumph.
    Nino beendete ihre archaische Äußerung und fing wieder an zu lachen.
    Sie ist betrunken, die Arme, dachte Xenia Nikolajewna.
    Als Nino genug gelacht hatte, erzählte sie die Geschichte, die für viele Jahre ihre Lieblingsgeschichte für enge Vertraute werden sollte.
    Am 5. März, als Stalins Tod noch nicht bekanntgegeben war, kamen zwei NKWD-Leute zu ihr nach Hause und nahmen sie mit. Eigentlich wollten sie auch ihre Schwester Manana mitnehmen, doch die war in der Woche zuvor nach Kutaïssi gefahren.
    »Mama packt meine Sachen, weint und flüstert: ›Er will und will uns nicht in Ruhe lassen, der Satan!‹ Der NKWD-Mann begreift und sagt: ›Ihre Tochter ist in drei Tagen zurück, höchstens in fünf. Mein Wort.‹
    Du erinnerst dich doch an Mama, Viktor? Xenia, natürlich erinnert er sich! Sie ist inzwischen neunzig, sie hatte auch in jungen Jahren keine Angst, und nun hat sie erst recht nichts mehr zu fürchten. Sie sagt: ›Oh, deine Worte sind wie Gold! Aber deine Hände sind wie Eisen!‹
    ›Sie brauchen mich nicht zu beleidigen, Lamara Nojewna‹, sagt einer der Mistkerle. ›Ihrer Tochter wird eine große Ehre zuteil‹, sagt er.
    Sie brachten mich ins Stadtkomitee der Partei. Ja, eine große Ehre. Überall brennt Licht, auf dem Flur rennen zahllose Menschen hin und her, wie auf dem Rustaweli-Boulevard bei einem Volksfest. Sie führen mich in einen Saal. Der Saal ist voller Frauen – ganz verschiedene, richtige Landeier sind darunter, aber auch Weriko, Tamara und die Schwestern Menabde, die Sängerinnen.
    Dann kommen zwei Männer, erst redet der eine, von wegen, ein großer Verlust für die ganze Welt, das Volk ist untröstlich, allgemeine Trauer und so … Ich denke, haben sie mich nur hergebracht, damit ich mir diese hochtrabenden Worte anhöre? Dann sagt der andere: ›Wir haben euch geholt, weil nach altem georgischem Brauch die

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