Das gruene Zelt
einmal halte ich das nicht aus. Aber Emigration … Ich gehöre hierher, ich habe alles hier. Meine Freunde, die russische Sprache, meine Aufgabe.«
»Aufgabe? Wovon redest du?«
Micha verzagte.
»Na ja, ich brauche doch eine Aufgabe!«
Ilja war ratlos. Er hatte keine bestimmte Aufgabe, er hatte Aufgaben. Viele verschiedene Aufgaben.
»Weißt du, lass uns der Reihe nach vorgehen. Du suchst dir eine Arbeit, schaust dich um, und dann überlegen wir weiter. Ich habe mich schon mal umgehört. Die Jungs suchen was für dich. Kümmere dich erst mal um dein Privatleben.«
»Wahrscheinlich muss man eben eine Wahl treffen. Ob man sich politisch engagiert oder sich lieber ins Privatleben zurückzieht.«
»Das ist doch romantischer Unsinn. Wieso eine Wahl? Was für eine Wahl? Das ist doch kindisch! Es gibt keine Wahl – du stehst morgens auf, putzt dir die Zähne, trinkst Tee, liest ein Buch, schreibst deine Gedichte, verdienst Geld, quatschst mit Freunden –, wo triffst du da eine Wahl? Irgendwann spürst du – das hier ist gefährlich. Also lass einstweilen die Finger davon. Man weiß doch immer, wo die Grenze ist. Und dann muss man sehen, was man macht. Wir rennen ja nicht absichtlich mit dem Kopf gegen die Wand! Manchmal ergibt es sich einfach. Dann weicht man eben aus, nach links oder nach rechts, damit sie einen nicht am Arsch kriegen. Klar, manche sind auf Ruhm aus, wollen Aufsehen erregen. Tschernopjatow ist eitel. Er wollte Ruhm, Einfluss. Eine Rolle spielen. Aber es gibt doch auch andere – Wolodja Bukowski, Tanja Welikanowa, Andrej Sacharow. Valera, Andrej, Alik, Arina … Ach, viele! Sie treffen keine Wahl, sie tun einfach, was sie tun. Und was sie spielen, ist nicht ihr eigenes Spiel …«
Was Ilja sagte, klang klug, Micha wusste nichts dagegen einzuwenden. Trotzdem fand er, dass etwas an dessen Argumenten nicht stimmte.
»Na, du bist gut! Du hast lauter Leute genannt, die sehr wohl eine Wahl getroffen haben, und wer von ihnen noch nicht gesessen hat, wird es bestimmt noch tun. Aber ich kann nicht noch mal ins Lager. Das halte ich nicht noch einmal aus.«
Doch Micha musste keine Wahl treffen – alles geschah von ganz allein.
Er erlebte jetzt schlechte Tage und gute Nächte. Leuchtende Nächte, die mit Aljonas unerhörter, endlich aufgeflammter Liebe zu ihrem Mann die trüben Tage erhellten. Micha spürte, dass Aljona nun auf seine Liebesbemühungen reagieren konnte, zwischen ihnen entstand ein Dialog, den es früher nicht einmal ansatzweise gegeben hatte. Etwas hatte sich verändert tief in Aljonas Körper – oder in ihrer Seele? Vielleicht hatte die Geburt des Kindes eine Schleuse geöffnet und dem natürlichen Verlangen der Frau nach dem Mann den Weg gebahnt. Die Gegenwart der schlafenden Tochter wärmte sie beide und verlieh dem erlebten Glück einen noch größeren Sinn.
Das erfüllte Liebesleben kompensierte den ärmlichen Alltag wenigstens teilweise. Doch alles andere schien hoffnungslos. Micha hatte keine Arbeit, kein Geld, keine Lebensaufgabe. Die meisten Moskauer Freunde und auch die aus Mittelasien besuchten ihn nicht mehr. Aus Angst um sich selbst oder um Micha und seine Familie.
Auch Sanja ließ sich nur selten blicken – er war erleichtert und zugleich gekränkt: Aljona hatte ihn fallengelassen wie einen nutzlosen Gegenstand. Nun fragte er sich, ob die sinnliche Spannung, die er drei Jahre lang zwischen sich und Aljona wahrgenommen hatte, tatsächlich existiert hatte. Ebenso kränkend war, dass auch Maja sich rasch von ihm entwöhnt hatte, sich nicht mehr an seinen Hals schmiegte, ihn nicht mehr hinter den Ohren kraulte. Gab es etwa eine Art geheimes Band zwischen den Frauen?
Sanja überlegte sogar vage, ob es womöglich einen universellen Kampf der Frauen gegen die Männer gab. Eine Art Klassenkampf. Nur seine Großmutter Anjuta hatte sich daran nicht beteiligt, sie hatte die Jungen geliebt. Am meisten natürlich ihren eigenen Enkel, aber auch Micha und Ilja hatte sie liebgewonnen. Wie mochte es zwischen ihr und ihren Ehemännern und Liebhabern gewesen sein – bestimmt hatte sie keinen Krieg gegen sie geführt.
Aber vielleicht war das eine Frage des Alters? In der Jugend herrscht Krieg, dann Waffenstillstand, und im Alter können Frauen und Männer einander nicht mehr verletzen?
Darüber muss ich mit Anjuta sprechen, dachte Sanja automatisch, doch dann kam in ihm die Kränkung wieder hoch, die ihm Aljona und Maja zugefügt hatten, die ihn – beide! – so belastend, so
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