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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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hatte, aus einem Raub stammte.
    Das bekümmerte vor allem Vitka. Er hatte kaum Erinnerungen an seinen Vater gehabt, nun hatten sie sich gerade neu kennengelernt, und schon war er wieder weg.
    Die Orden kehrten über eine Kette von Menschen, die einander zum Teil kaum kannten, wieder zu General Nitschiporuk zurück. Nackt und bloß, ohne ihre handgefertigten Futterale, aber in Zellophan gehüllt und zur sicheren Aufbewahrung in einen gusseisernen Topf gepackt, hatten sie lange in der Erde gelegen, auf der Datscha von Sojas Nichte vergraben, an der Bahnstation Kratowo an der Kasaner Eisenbahn, hinter zwei Fichten, zwischen denen eine Kinderschaukel hing. Für bessere Zeiten.
    Und diese besseren Zeiten kamen. Schließlich fanden sie wieder zueinander, der General und seine Auszeichnungen. Der General lebte in einem Land, in dem man sehr alt werden musste, um die besseren Zeiten noch zu erleben. Er wurde neunzig und starb als Held. Begraben wurde er 1991, und seinem Sarg vorangetragen wurde ein Kissen mit allen seinen Orden, die einst in eine zerschlissene angerauhte Unterhose gewickelt waren; auch jener amerikanische war dabei. Und das Kissen war rot, wie es sich gehört.

Imago
    Alles war wie früher – der Hof, die Nachbarn, die fehlende Diele im Flur, die Verkäuferinnen beim Bäcker und im Fischladen, der Hausverwalter. Dennoch war es, als seien nicht drei Jahre vergangen, sondern dreißig. Micha hatte ständig das Gefühl, als könnte bei einer unvorsichtigen Bewegung alles klingend zerspringen – das Haus, der Hof, seine Tochter, seine Frau, die ganze Stadt und der April, der in diesem Jahr so warm und freundlich war. Äußerst vorsichtig bewegte er sich im Zimmer, in der Wohnung, in der nächsten Umgebung.
    Zuallererst ging er zu Anna Alexandrowna. Dann zur Miliz, wegen des Stempels im Ausweis. Dort hieß es, er müsse binnen dreißig Tagen eine Arbeit nachweisen.
    Als Nächstes ging er in die Historische Bibliothek, überzeugt, man würde ihn nicht einlassen. Doch es hieß nur, er müsse seinen abgelaufenen Leserausweis erneuern lassen.
    Einige Wochen später, nach Anna Alexandrownas Tod, besuchte er Ilja und Olga. Er war selten in dieser merkwürdigen Wohnung in der Worowski-Straße gewesen, einer Mischung aus kommunistischer Askese und russischem Empire. Olga hatte für Aljona nie besondere Sympathie gehegt, aber sie liebte Micha abgöttisch.
    Olga herzte und küsste Micha, nahm aus dem Kühlschrank in Pergamentpapier gewickelte Päckchen mit Pasteten, Salaten in Blätterteigtorteletts, Schinken, Hering und andere Köstlichkeiten aus der Feinkostabteilung des Restaurants Prag, verteilte alles auf durchsichtige kleine Teller, küsste Micha noch einmal und verschwand, um eine dringende Übersetzung zu beenden, die sie am nächsten Morgen abgeben musste. Ilja holte eine Flasche armenischen Kognak hervor. Trinken konnte Micha fast nichts, und er aß auch nur sehr vorsichtig, weil er die Magenschmerzen fürchtete.
    Sie setzten sich und schauten sich an: Ilja hatte Angst, etwas Überflüssiges zu sagen. Er war nicht allzu sentimental, doch nun empfand er Micha gegenüber das gleiche Gefühl, das, selten genug, sein behinderter Sohn in ihm weckte. So sehr, dass es in seiner Nase kribbelte.
    »Hast du das gestern gesehen?«, fragte Micha.
    Ilja nickte.
    »Klar. Ganz Moskau hat sich das angesehen. Etwas in der Art war ja zu erwarten.«
    »Zu erwarten? Also, ich hätte nie gedacht, dass er so weit gehen würde …«
    »Auf seine Weise genial«, bemerkte Ilja.
    Am Tag zuvor war der Prozess gegen Tschernopjatow und seine beiden engsten Freunde zu Ende gegangen. Im Fernsehen wurde etwas Sensationelles gezeigt – eine Pressekonferenz von Tschernopjatow. Anderthalb Stunden lang bekannte Tschernopjatow reumütig alle seine Sünden gegen die Sowjetmacht. Und das mit Talent – sofern man eine Gemeinheit mit Talent begehen kann. Am verblüffendsten war, dass er sich als Oberhaupt der demokratischen Bewegung, als ihren Anführer und wichtigsten Ideologen bezeichnete, und als selbsternannter Kopf rief er zur Umgestaltung der Bewegung auf. Jeder, der auch nur irgendwie damit zu tun hatte, wusste, dass es keine einheitliche Bewegung gab, sondern verschiedene, meist vollkommen getrennt agierende Interessengruppen, die nur eines einte: Sie alle lehnten die gegenwärtige Regierung ab und wollten Veränderungen. Ganz unterschiedliche Veränderungen.
    Diese Fernseh-Pressekonferenz wurde anschließend allerorten lebhaft erörtert. Das

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