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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Ganze erinnerte sehr an Dostojewskis »Dämonen«. Viele fürchteten ausgedehnte Repressalien gegen alle Andersdenkenden, andere, eher philosophisch Gestimmte, stellten sich abstrakte Fragen: Ob der große Dostojewski das Dämonische an der russischen revolutionären Bewegung nur entdeckt oder ob er es unversehens erschaffen habe – zusammen mit seinen literarischen Helden Stawrogin und Petenka Werchowenski.
    Darüber redeten Micha und Ilja den ganzen Abend, kamen aber zu keinem endgültigen Schluss. Zu vieles war rätselhaft.
    Sie konnten nicht verstehen, was mit Tschernopjatow geschehen war: Er war der Stärkste von allen, klug und erfahren – Minderjährigenkolonie, stalinsche Lager, Verbannung … Und er hatte ein klares Feindbild: die Sowjetmacht, den Stalinismus. Was hatte ihm widerfahren müssen, damit er eine so abrupte Wendung vollzog?
    »Ilja, sie haben mich mit ihm zusammengebracht, sechs Wochen vor meiner Entlassung. Ich wusste gar nicht, dass sie ihn verhaftet hatten und dass er aussagte. Dass er ein sogenanntes freimütiges Geständnis abgelegt hatte. Dutzende Namen. Praktisch die gesamte ›Chronik‹ hat er ihnen geliefert – Redakteure, Herausgeber. Mit allem Möglichen hatte ich gerechnet, aber nicht damit. Tschernopjatow hat zu mir gesagt, ich machte einen Fehler, man brauche Mut, um seine Fehler zu bekennen und neue Wege zu suchen. Anschließend haben sie großen Druck auf mich ausgeübt, damit ich mich ihm anschließe. Ich habe mich geweigert. Sie haben mir mit einer neuen Anklage und einer weiteren Haftstrafe gedroht. Ich war sicher, sie würden mich nicht rauslassen. Aber das haben sie getan. Ich musste unterschreiben, dass ich mich nicht antisowjetisch betätigen werde, und bin rausgekommen. Was mit ihm passiert ist, begreife ich nicht. Vielleicht wissen wir ja irgendetwas nicht. Sie haben so viele Methoden, nicht nur Schläge.«
    »Ich hab gehört, sie hätten eine Art ›Wahrheitsserum‹, das tun sie ins Essen oder ins Trinken«, sagte Ilja.
    »Tja, schon möglich. Das sind eben Profis, gegen die sind wir alle machtlos. Genau wie gegen die Kriminellen. Im Lager habe ich oft an Mandelstam gedacht. Wie es für ihn gewesen sein mag … dort zu sterben. Weißt du, sie haben einen besonderen Riecher für moralische Stärke. Einen aufrechten Menschen zu brechen, das ist für sie ein besonderer Genuss. Wir sehen für sie alle gleich aus – wie Chinesen oder so. Wir Brillenträger. Vor dem Abtransport ins Lager hat ein Natschalnik mir die Brille zertreten. Wie er es genossen hat, als sie unter seinen Stiefeln knirschte! Ohne Brille sehe ich ja fast nichts, wie du weißt. Erst nach drei Monaten bekam ich eine neue geschickt, von Anna Alexandrowna. Tschernopjatow ist übrigens auch Brillenträger.«
    »Ja, ich habe ihn vor ein paar Jahren fotografiert. Ist ein schönes Porträtfoto geworden.«
    Ilja fühlte sich ihm gegenüber nicht schuldig. Er dachte nur: Alle haben Dreck am Stecken, verdammt!
    »Na ja, ich rede vom Grad der Verletzbarkeit, verstehst du«, sagte Micha, und Ilja verstand sehr gut. »Wer weiß, wie sie ihn gebrochen haben, vielleicht haben sie ihm was eingeflößt oder so … Aber ich bitte dich um eins: Sprich nicht schlecht über ihn. Er tut einem doch leid. An Aljona hat er gar nicht gedacht. Wie das für sie ist. Und für sein ganzes Umfeld.
    Er hat einen hohen Preis gezahlt, ich glaube, ihm geht es jetzt von allen am schlechtesten. Wie soll man so was überleben? Du hast mir damals, vor meiner Verhaftung, sehr geholfen, Ilja. Ich hab die ganze Zeit an deine Worte gedacht: ›Alles, was du sagst, wird gegen dich verwendet. Schweig. Das ist am besten – schweigen.‹ Und daran hab ich mich gehalten. Aber Sergej Borissowitsch, der hält eben gern Reden, mehr als gern. Wahrscheinlich hat er sich irgendwie verquatscht, und dann konnte er nicht mehr zurück. Oder er war mit seiner Kraft am Ende. Ich verurteile ihn nicht.«
    Micha sprach hitzig und verworren, aber Ilja verstand, was er meinte. Er schwieg eine Weile, schenkte nach und leerte sein Glas.
    »Ich auch nicht.«
    »Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Im Grunde war die Arbeit mit den Taubstummen das einzig Richtige für mich.«
    »Uns fällt schon was ein.« Ilja sprach weniger überzeugt als sonst. »Hast du nie an Emigration gedacht?«, fragte er Micha zum ersten Mal ganz direkt.
    »Emigration – das wäre nur die letzte Rettung vor dem Tod. Ilja, das Schlimmste, was mir passieren kann, ist das Lager. Noch

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