Das gruene Zelt
fordernd ganze drei Jahre lang geliebt hatten, und jetzt, nach Michas Rückkehr, war die ganze Liebe binnen zwei Wochen vorbei, als hätte es sie nie gegeben …
Niemals mehr würde Sanja erfahren, was seine Großmutter darüber dachte. Und Micha würde nie erfahren, dass Anna Alexandrowna Aljona nicht gemocht hatte, sie verabscheute den Typus Frau, den sie verkörperte: schwache, fordernde, despotische, hilflose Geschöpfe mit der großen Begabung, zärtliche Gefühle, Leidenschaft und Liebe zu wecken, jedoch kaum fähig, diese mit Dankbarkeit und Mitgefühl zu erwidern.
Alle, die Anna Alexandrowna nahegestanden hatten, versuchten jetzt, nach ihrem Tod, zu erraten, wie sie auf dieses oder jenes Ereignis reagiert hätte, die Worte zu finden, die sie aus diesem oder jenem Anlass gesagt hätte.
Ihre Tochter Nadeshda verdrängte die Ahnung, welchen Abscheu ihr Auserwählter Lastotschkin in ihrer Mutter erregt hätte. Erst sechs Jahre später, wenn Lastotschkin ihr großes Zimmer in der Gemeinschaftswohnung gegen zwei kleine Zimmer tauschen und Anjutas Eigentum von den Löffeln bis zur Bettwäsche pedantisch auflisten würde, um es gerecht zu teilen, sollte sie erschrecken und sich sagen: Was für ein Glück, dass Mutter das nicht mehr erlebt und Sanja emigriert ist …
Doch auch Anna Alexandrowna hatte etwas Grausames getan, das niemand von ihr erwartet hätte: Sie war gegangen, hatte sie alle im Stich gelassen – Sanja, Micha, Wassili Innokentiewitsch, ihre Tochter Nadeshda, die nie gelernt hatte, sich selbständig in der Welt zu bewegen, sie hatte niemandem genaue Anweisungen hinterlassen, wie er weiterleben sollte. Sie hatte aufgeschrieben, wie sie begraben werden wollte. Aber wie sollte es nach der Beerdigung weitergehen? Am nächsten Tag? Nach einem Monat? Einem Jahr?
All die Jungen und Mädchen, die Anna Alexandrowna ihr Leben lang unermüdlich und scheinbar beiläufig angeleitet hatte, sie alle blieben nun ohne diese zwanglose, heitere Lenkung, in der sich Leichtsinn und Weisheit mischten, gesunder Menschenverstand und dessen Gegenteil, Vertrauen in das Leben und ein scharfer Blick, der jeden neuen Menschen, auch wenn er noch so flüchtig auftauchte, sofort richtig einschätzte.
Während Sanja nach dem Tod seiner Großmutter in Schwermut verfiel, durchlief Micha wie ein Insekt das letzte Stadium der Metamorphose: Anna Alexandrownas Tod zwang ihn, endgültig erwachsen zu werden.
Nun, da sie nicht mehr lebte, versuchte Micha zu verstehen, warum gerade er zum Augenzeugen ihrer letzten Minuten geworden war. Er glaubte, wenn er dieses Rätsel löste, würde er wissen, wie er weitermachen sollte in diesem Leben, in dem er nun, wie es aussah, der Älteste war, denn kein Mensch auf der Welt konnte seine schweren Fragen mehr beantworten.
Anna Alexandrowna hatte ihm etwas Wichtiges nicht mehr sagen können, und nun musste er selbst darauf kommen.
Still, um das Glück nicht zu verscheuchen, freute sich Micha an seinem aufblühenden Eheleben, bewunderte seine Tochter und klapperte auf der Suche nach Arbeit erfolglos diverse Institutionen ab. Alle Fristen waren abgelaufen, ihm drohte der »Asozialen«-Paragraph, der die Ausweisung aus Moskau vorsah.
Der Milizionär Kussikow kam vorbei und machte Druck wegen der Arbeitssuche. Ein junger Mann vom Lande, dessen Gesicht noch ein wenig bäuerliche Röte und einen Schimmer von Menschlichkeit bewahrt hatte. Er schaute sich um. Betrachtete lange Aljonas graphische Blätter. Wunderlich. Seltsam. Micha bemerkte seinen neugierigen Blick und erklärte, seine Frau sei Künstlerin. Das machte Eindruck. Der Milizionär war nun voller Respekt für das dünne Mädchen. Und überhaupt – die beiden lebten zwar arm, aber kultiviert. Er verspürte sogar den Wunsch, ihnen zu helfen. Kussikow hatte offensichtlich Mitleid mit Micha und seiner klapperdürren Frau.
Er bot an, Micha im Fischladen als Packer unterzubringen – er kannte die Leiterin. Micha hob bedauernd die Hände: Früher habe er als Packer gearbeitet, aber nun sei er so stark kurzsichtig, dass das Säckeschleppen seine Augen endgültig ruinieren würde. Mechanisch griff er sich an die Brille. Aljona bot Tee an. Der Milizionär setzte sich, die kräftigen Beine beiderseits des Stuhls auf den Boden gestemmt. Maja betrachtete wie gebannt die Schirmmütze auf dem Tisch. Kussikow bekam zwei Stück Kuchen auf einen Teller gelegt. Er aß nur eins, womit er eine gute ländliche Kinderstube demonstrierte.
Beim Abschied sagte
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