Das gruene Zelt
Geschichte, irgendwie sogar amüsant.
Wassili hatte General Nitschiporuk nach dem Krieg nicht wiedergesehen. Später hatte er Gerüchte gehört, Nitschiporuk unterrichte an der Militärakademie. Sie hatten keinen Kontakt mehr gehabt. Doch er konnte ihn ausfindig machen – über Nefjodow oder über die Golubewa.
In diese Gedanken versunken, erreichte er die Kirche. Vor dem Portal stand Nadeshda, die aussah wie ihre Mutter mit vierzig, nur dass Anjuta etwas ganz Besonderes gewesen war, großartig und unvergleichlich.
Mit Nadeshda unterhielten sich zwei alte Frauen, die er nicht kannte, und zwei junge Männer – Sanja und sein Freund Micha, der Rothaarige mit dem Bärtchen.
Anjutas Freundin Jelena kam herbeigeeilt – puterrot und keuchend. Eine Augenzeugin und Vertraute, sie gehörte gewissermaßen zu Anjutas und seinem Leben.
Extrem hoher Blutdruck, konstatierte Wassili. Er und Jelena küssten sich, den Blutdruck erwähnte er nicht. Wozu auch?
Eine Kirchendienerin kam heraus.
»Der Priester bittet Sie zum Gedenkgottesdienst.«
Wassili stellte sich zwischen Nadeshda und Jelena, die beiden anderen alten Frauen daneben, dahinter Sanja und sein Freund.
Aus einer Seitentür kam ein hagerer kleiner Priester, ein Weihrauchgefäß schwenkend.
Zum zweiten Mal in anderthalb Monaten war Wassili heute in der Kirche, der erste Anlass war Anjutas Totenmesse gewesen, und nun der Gedenkgottesdienst, davor hatte er vierzig Jahre lang keine Kirche betreten. Er gestand sich ein, dass sich in seinem Herzen ein vergessen geglaubtes Gefühl aus der Kindheit regte. Seltsam, seltsam … Vielleicht lag das am Alter. Der Chor der alten Frauen sang sehr schön, und Wassili fiel sogar der Text wieder ein. Von hinten stimmten Männerstimmen ein. Er drehte sich um. Sanja, Anjutas Enkel, der liebe Junge, sang: »Als der Gütige und Menschenliebende, der die Sünden nachlässt und die Ungerechtigkeiten vernichtet, vergib, lass nach und verzeihe …«
Woher kennt er das?, staunte Wassili.
Tatsächlich hatte Sanja vor vierzig Tagen noch keines dieser Gebete gekannt. Doch nun kannte er sie.
Sanjas rothaariger Freund weinte bittere Kindertränen. Jeder der beiden Jungen hielt eine brennende Kerze in der Hand.
Wassili empfand ein vages Gefühl von Schuld, Trauer und Wehmut. Anjuta, seine entfernte Cousine, seine erste und lebenslange Liebe, eine Romanze, die mit Unterbrechungen seit ihrer Kindheit angedauert hatte, sein punktuelles Doppelleben, das ihm so kostbar war … Was für ein gnadenloses Schicksal … Sie hatte seine Liebe stets abgewehrt, und er hatte hartnäckig, beinahe mit Gewalt um sie gekämpft. Hin und wieder war sie fast widerwillig darauf eingegangen … und hatte mit einem rätselhaften, melancholischen Lächeln, wie es zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts üblich war, gesagt:
»Basil, du tauchst immer genau dann auf, wenn mein Leben zusammenbricht, du bist mein Retter, aber, verzeih, du bist für mich eben untrennbar verbunden mit meinem Unglück …«
Daran dachte Wassili bei diesem wundervollen Gesang, die fremden Kriegsauszeichnungen aber, die seine Tasche herabzogen, hatte er völlig vergessen.
Pjotr Nitschiporuk wurde am Tag nach seiner Abreise in Minsk verhaftet, und am selben Tag kamen sie und durchsuchten seine Wohnung. Sie fanden nichts Belastendes, durchwühlten aber alles und nahmen einiges mit – Fachbücher aus der Vorkriegszeit mit Widmungen sowie Vorlesungsmanuskripte.
Soja war froh, dass die Orden aus dem Haus waren. Diese Kriegsauszeichnungen schienen ohnehin gar nicht zu existieren. Eins war zum anderen gekommen: die Degradierung, die Aberkennung der Auszeichnungen, die Haft, und nun galt Pjotr als unzurechnungsfähig. Doch sie wusste genau, dass Pjotr völlig in Ordnung war – unzurechnungsfähig war dieses Land.
Was Tonja Mutjukina angeht, so wusste sie lange nicht, dass sich nur noch die leeren Schachteln in ihrem Haus befanden, die Orden aber verschwunden waren. Das kam erst heraus, als ihr älterer Bruder Tolja aus dem Gefängnis kam, plötzlich viel Geld hatte, allen Geschenke kaufte und der Mutter Geld gab. Davon kaufte die Mutter einen neuen Schrank. Als sie alle alten Sachen rauswarfen, entdeckte Tonja, dass die Orden weg waren. Was sie da durchmachte! Sie verdächtigte zunächst Tolja, denn sie wusste, dass solche Orden wertvoll waren.
Aber Tolja hatte nichts damit zu tun.
Im Übrigen wurde er zwei Monate darauf erneut verhaftet, weil jenes Geld, von dem er die Geschenke gemacht
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