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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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hatte; und ihre Tochter, die wegen Beteiligung und Mitwisserschaft ebenfalls gesessen hatte, ging zu demselben Bäcker, in denselben Gemüseladen wie Micha. Wenn die beiden ihnen auf der Straße begegneten, flüsterte er Aljona ins Ohr: Da ist die Iwinskaja, und das ist Ira Jemeljanowa, sie war auch an unserer Schule.
    Aljona drehte sich um und schaute ihnen nach – eine füllige Frau mit geschminktem Gesicht, ohne jede Spur einstiger Schönheit und in einem abgewetzten Mantel. War sie das wirklich? Konnte das sein? Dabei hatte sie einmal ausgesehen wie Simone Signoret.
    Aljona sah ihren Mann an: Wir leben nicht in der Gosse, wir leben in der Geschichte … Auch Pasternak war vor nur zwanzig Jahren durch diese Straße gegangen. Und vor hundertfünfzig Jahren Puschkin … Und jetzt laufen wir hier entlang und machen einen Bogen um die Pfützen.
    Im Frühjahr, Mitte Mai, geschah etwas Überraschendes: Nach ein Uhr nachts klappte die Fahrstuhltür, und es klingelte viermal – also bei Melamid. Micha und Aljona schliefen eng umschlungen und erwachten gleichzeitig, und noch nicht ganz klar im Kopf, beherrscht von wirren nächtlichen Träumen, dachten sie: Sie sind gekommen!
    Sie umarmten sich fester, pressten Wangen, Brust und Knie aneinander, verabschiedeten sich mit dem ganzen Körper, standen zusammen auf und zogen sich rasch an. Erneut klingelte es viermal, aber irgendwie schüchtern. Wieder umarmten sie sich, doch diesmal mit einem anderen Gefühl, nicht Abschied nehmend, sondern voller Hoffnung: Vielleicht geht der Kelch ja vorüber.
    Hand in Hand gingen sie zur Tür. Micha öffnete, ohne zu fragen. Vor der Tür standen nicht drei, vier, fünf Stiernacken, sondern ein zierliches junges Mädchen in einem grünen Seidenkleid und mit einem dicken Zopf über der Brust. Sie erkannten es sofort.
    »Aische! Aische!«
    Das tatarische Mädchen, das sie vor langer Zeit in Bachtschissarai kennengelernt hatten, die Tochter von Mustafa Usmanow, dem Helden und Anführer der deportierten Tataren. Nun kein Kind mehr, sondern eine junge Frau. Komm rein, komm rein, warum hast du nicht angerufen, wir hätten dich abgeholt …
    Ein kleiner Koffer, ein mit Stoff ausgeschlagener Korb, die Handschuhe fallen herunter, nicht die Schuhe ausziehen, im Zimmer, du kannst dich im Zimmer ausziehen, warum hast du nicht angerufen, wie viele Jahre, ja, vier, fünf, ich habe eine Tochter bekommen, wir auch, wir haben auch eine Tochter! Ich bin verheiratet, ja, gleich, ich erzähle euch alles, gleich …
    »Ich konnte nicht anrufen. Ich hatte Angst. Vater wurde verhaftet. Er hat einen guten Anwalt, der hat mir geraten, nach Moskau zu fahren. Er sagt, ich soll Andrej Sacharow suchen, damit der einen Brief schreibt. Aber wo soll ich ihn finden, diesen Sacharow? Der Anwalt hat gesagt: Das Ausland muss protestieren, im Radio, oder wo immer. In Amerika! Und möglichst schnell, denn Vater hat einen Splitter in der Brust, wenn der anfängt zu wandern, stirbt er. Aber unsere Tataren streiten sich, Vater ist Kommunist, sie haben ihn zwar längst aus der Partei geworfen, doch er redet noch immer von Lenin. Aber diese bösen Teufel, die werden ihn verrotten lassen. Darum hat der Anwalt mich hergeschickt – fahr schnell, sonst erlebt er nicht mal mehr den Prozess …« Während sie das herunterhaspelte, fing sie an zu weinen, in ihren blauen Augen sammelten sich blaue Tränen und flossen reichlich, wie bei einem kleinen Kind.
    »Aische, warte, Aische, nicht weinen …«
    Im Zimmer war gerade noch genug Platz für ein Klappbett, wenn sie das Kopfende dicht an die Wand unterm Fenster rückten, den Tisch um zwanzig Zentimeter verschoben und den Kinderstuhl zusammenklappten. Sie tranken Tee, machten das Bett für Aische und schliefen selbst noch zwei Stunden: Micha musste um sieben aufstehen, um acht begann seine Arbeit.
    Von der Arbeit aus rief er Ilja an – sie müssten sich treffen. Wo? Wie immer. Also im Miljutin-Garten.
    »Ist sie etwa bei euch zu Hause?« Ilja runzelte die Stirn. »Das ist gefährlich. Die hängen bestimmt an ihr dran. Sie muss woandershin.«
    »Nein, das ist unmöglich. Die Nacht damals auf dem Friedhof, in Bachtschissarai … Und Mustafa – er ist ein großartiger Mensch. Es kommt, wie es kommt. Mach Andrej Sacharow für mich ausfindig, Ilja. Schaffst du das?«
    »Gib mir einen Tag«, bat Ilja.
    Iljas Freundes- und Bekanntenkreis war sehr groß. Er prahlte sogar ein wenig mit seinen weitreichenden Kontakten und scherzte: Wenn man die

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