Das gruene Zelt
Kussikow bedauernd, er wisse ja noch eine gute Stelle, aber das sei ein Wachdienst, und einen Vorbestraften würde die Kaderabteilung nicht nehmen.
Als er gegangen war, sagte Micha: »Das ist doch erstaunlich am sowjetischen Leben – oder am russischen? –, man weiß nie, von wem man denunziert wird und von wem man Hilfe angeboten kriegt, die Rollen wechseln blitzartig. Findest du nicht auch?«
Aljona nickte, und das Haar fiel ihr übers Gesicht.
»Ja, ja, das denke ich schon lange. Alles ist so unsicher, es gibt so viel Herzlichkeit und Wärme, aber das alles führt zu nichts, es kommt nichts Gutes dabei heraus.«
»Nein, davon rede ich nicht«, entgegnete Micha.
»Aber ich.« Aljona lächelte klug. Sie hatte sich ein neues Lächeln zugelegt, weit klüger, als sie selbst war.
Zwei Tage später kam Kussikow wieder und vermittelte Micha an eine Institution, wo man ihn als Expedienten einstellte. Er musste Muster von geologischen Erkundungen sortieren und an verschiedene Adressen schicken.
Nach der Arbeit im Internat, die ihn seelisch ganz gefordert hatte, und der Lagerfron, die sämtliche Kräfte aufgezehrt hatte, verfügte diese fast sinnentleerte Tätigkeit über eine erstaunliche Eigenschaft: Sie dauerte von acht bis vier, manchmal konnte er sogar früher nach Hause gehen, und damit war sie wirklich vorbei, bis zum nächsten Tag, er dachte nicht mehr daran, seine ganze Seele war frei, und auch Kraft hatte er noch übrig; die lange Zeit bis zum Abend verbrachte er mit Aljona und seiner Tochter, oder er ging in die Bibliothek und las ziellos, ohne die frühere Gier, ließ die fremden Worte durch sich hindurchfließen – Montaigne, Blawatskaja, Lao-tse …
Nach Hause kam er dann zu einem späten Abendessen. Maja schlief, Aljona, in einem engen gelbgrünen Kleid mit weiten Ärmeln, brachte aus der Küche Bratkartoffeln in einer gusseisernen Pfanne, die ihre schmalen Hände kaum halten konnten.
Im Zimmer roch es nach Öl, kindlichem Schlaf, frisch gewischtem Fußboden und nach Aljonas besonderem Duft – leicht süßlich und frisch. Es war der Geruch von Privatleben, Familie, Liebe.
Micha aß hastig die Bratkartoffeln, und Aljona trank bedächtig ihren Kräutertee, um das Ende des Tages ein wenig hinauszuzögern und das Anbrechen der Nacht nicht zu beschleunigen.
So rückte das frühere Leben mit den Unrichtigkeiten und Ungerechtigkeiten, den gehegten Ideen und Umgestaltungskonzepten immer weiter fort. Tschernopjatows Schuldbekenntnis, das alle früheren Vorstellungen durcheinandergebracht hatte, rechtfertigte in gewissem Maße auch Michas Kapitulation. Sein Leben verlief nun in dem stillen und ein wenig peinlichen Raum zwischen dem Heldentum der einen und dem Verrat der anderen. Was ihn einige Monate zuvor noch als Niederlage und Abtrünnigkeit gequält hatte – die demütigende schriftliche Verpflichtung, auf politisches Engagement zu verzichten –, erschien ihm nun als die einzige Möglichkeit, zu überleben und seine Familie zu schützen.
Alles kam neu in Gang, und selbst die Arbeit als Expedient – eine stumpfsinnige, fremde Tätigkeit – offenbarte eine reizvolle Seite: Hin und wieder musste Micha den Inhalt von Paketen mit verschiedenen Gesteinsmustern sortieren, farbigen Lehm, spitze durchsichtige Kristalle oder metallglitzernde Steine, und die wundervollen Namen der fernen Orte, aus denen all diese geologischen Fundstücke mit ihrer jahrmillionenalten Geschichte kamen – Maly Storoshok an einem Nebenarm des Flüsschens Lenotschka, der Berg Matjukowka in der Lagerstätte von Wsewolodo-Wilwa, das Becken des Flusses Schudja im Nordural –, schmeichelten der Zunge. Eines Tages verfasste Micha sogar ein Gedicht, das vollständig aus diesen magischen Ortsnamen bestand.
Das Leben verlief nun still und leise, wie in der Dämmerung und auf Zehenspitzen, und trotz der Geldnot, des kargen Alltags und der tief verborgenen Scham wegen des Verzichts auf das frühere waghalsige und bunte Leben erleuchtete das häusliche Glück ihr Vierzehn-Quadratmeter-Zimmer, und Micha sah alles in Großaufnahme, wie in den geliebten Versen:
Auf heller Decke neigten sich,
wie Schattenpaare,
gekreuzte Arme, gekreuzte Beine
und Schicksalsjahre.
Zu Boden fielen kleine Schuh
mit leisem Poltern,
derweil, wie Tränen, auf das Kleid
Wachstropfen rollten.
Und ganz in der Nähe, drei Minuten Fußweg entfernt, lag die Potapow-Gasse, und dort lebte eine alte Frau, Pasternaks letzte Liebe, die für diese Liebe im Lager gesessen
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