Das gruene Zelt
1963 verbrachte er sogar fünf Monate in Moskau, an einer Fakultät der Universität, wo Ausländer Russisch lernten. Pierre, der im Wohnheim wohnte, unternahm Streifzüge durch Moskau, besuchte mit seinem Freund Ilja diverse Dissidententreffs, mit seinem Freund Sanja wunderbare Konzerte, und einmal begleitete er seinen Freund Micha sogar ins Taubstummeninternat. So erforschte er sein geliebtes Russland.
Nach den fünf Monaten wurde Pierre denunziert – wegen der Bücher, die er per Diplomatenpost für seine Freunde bezog – und wegen Spionage ausgewiesen. Damit war man an der Universität streng.
Die Sache erregte ziemliches Aufsehen – es erschien ein Artikel in einer zentralen Zeitung, in dem man Pierre Spionage, zersetzende Tätigkeit und die Verbreitung antisowjetischer Literatur vorwarf. Außer der Denunziation aber gab es offenkundig nichts Konkretes, nur übertriebene Verdächtigungen.
In diesen fünf Monaten hatte sich Pierre in Alla verliebt, ein hübsches Mädchen mit nordischen Augen und strohblondem Haar, doch es war ihnen nicht vergönnt, vereint zu sein, was Alla bis ins hohe Alter beklagte. Sie hatte eine Dummheit begangen: Hätte sie ihn nicht denunziert, wäre es vielleicht zur Hochzeit gekommen. Aber man hatte Druck auf sie ausgeübt, gedroht, ihr den Wohnheimplatz wegzunehmen, sie zur Prostituierten zu erklären und ihre Existenz zu vernichten. Das Mädchen traute der Sowjetmacht eigentlich nicht, doch diesen Verheißungen glaubte sie sofort.
Aber Ausweisung war immerhin weit besser als Nabokovs Perspektive: »und sie führen mich zur Schlucht hin, zur Schlucht, um mich zu töten«.
Pierre hatte sein geliebtes geistiges Vaterland binnen drei Tagen verlassen müssen, und später sehnte er sich nach Russland ebenso heftig, wie viele Tausende davon träumten, es zu verlassen. Doch die einen wurden nicht hinein-, die anderen nicht herausgelassen.
Das Leben verschlug Pierre in den folgenden Jahren in die entgegengesetzte geographische Richtung. Er wurde Slawist und erhielt einen Ruf an eine kalifornische Universität. Der Kontakt zu den Moskauer Freunden riss nicht ab, wurde aber immer spärlicher. Dennoch erhielt Pierre 1970 ein merkwürdiges Buch, kaum, dass es im Samisdat erschienen war, aus Russland – das Poem Die Reise nach Petuschki des vollkommen unbekannten Autors Wenedikt Jerofejew.
Dafür hatte Ilja gesorgt. Er hatte auch einen Begleitbrief geschrieben, in dem er Pierre erklärte, dieser Roman sei das Beste, was im nachrevolutionären Russland entstanden sei. Pierre stimmte seinem Freund zu und machte sich an die Übersetzung. Nach drei Monaten war ihm klar, dass er diese Aufgabe nicht bewältigte. Der Roman war nicht zu stemmen. Je mehr er sich in ihm vertiefte, desto mehr Schichten entdeckte er.
Der Autor bediente sich eines Kunstgriffs, indem er auf die Tradition des Sentimentalismus verwies. Es waren Aufzeichnungen eines russischen Reisenden. Doch der Autor ging weit über die traditionellen Reisebeschreibungen Radistschews und Gribojedows hinaus und schweifte in viele andere Richtungen ab – zu Dostojewski und Block ebenso wie zur derben, unbestechlichen Volkssprache. Der Text war voller Zitate – wörtlicher und paraphrasierter – und literarischer Anspielungen. Er vereinte Parodie und Mystifikation und war geprägt von lebendigem Leiden und echtem Talent.
Pierre schrieb einen umfangreichen Artikel über den Roman und schickte ihn an eine wissenschaftliche Zeitschrift, wo er abgelehnt wurde. Niemand kannte den Autor, und den Artikel fanden die Redakteure zu gewagt.
Darüber war Pierre schrecklich gekränkt und betrank sich heftig. Betrunken rief er seine russischen Freunde an. Ilja und Micha erreichte er nicht. Aber Sanja. Der erzählte ihm von einem Unglück: Micha sei tot. Und fügte einige verworrene Sätze hinzu – das Leben sei für ihn sinnlos geworden, was habe es noch für einen Sinn, wenn die Liebsten und Besten einen verließen. Und auch der Sinn selbst habe keinen Sinn …
Pierre wurde nüchtern. Er sagte, er werde sich einen Ausweg für Sanja überlegen. Etwas Konstruktives. Und dass er jetzt sein Gehalt für zwei Wochen vertelefoniert habe. Und nun müsse er unverzüglich austrinken, was noch in der Flasche sei. Und Sanja solle auf einen Anruf von seinem Freund Jewgeni warten.
Sanja vergaß das Gespräch sofort, als wäre er selbst und nicht Pierre betrunken gewesen. Mutlosigkeit hatte von ihm Besitz ergriffen wie ein Fieber. Er lag die ganze Zeit auf
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