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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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7, die auf dem Brief als Absender angegeben war, existierte nicht mehr.
    Kostja setzte sich auf einen Baumstumpf direkt gegenüber. In dem neuen Wohngebiet wurden die Bäume gefällt, damit sie dem freien Blick und den Bauarbeiten nicht im Wege waren.
    Zu spät. Dieser Baggerfahrer hat gestern oder vorgestern die Erde hier umgewühlt, Urgroßvaters Gebeine aufgeladen, auf einen Laster gekippt, und nun ruhen sie auf der städtischen Müllkippe. Was für eine Schande … Nun ist es endgültig. Das werde ich mir nie verzeihen. Warum habe ich so lange gewartet? Mutter hatte mich vor ihrem Tod gebeten, sie zu verbrennen und die Asche auf Iljas Grab zu streuen, und auch das habe ich nicht getan. Denn wo lag München? Wo dieses Grab? Die Gräber der Väter … Urgroßvaters Gebeine auf der Müllkippe … Was für eine russische Geschichte … Ja, so sind wir …
    Ein Hundeknurren hinter ihm lenkte ihn ab. Bereitwillig drehte er sich um, denn die ungewohnte Trauer hatte sein Gemüt rasch erschöpft. Im frischen Gras balgten sich spielerisch zwei junge, schon fast ausgewachsene Hunde. Der eine hatte einen riesigen Knochen im Maul, den er kaum halten konnte, der andere zerrte daran und stieß mit der Schnauze nach der Schulter des Rivalen.
    Der Knochen war längst abgenagt – nur noch ein Spielzeug.
    Kostja saß auf dem Baumstumpf und weinte vor Scham und vor Wut auf sich selbst.
    Als er den Kopf hob, standen neben ihm zwei alte Frauen mit Kopftuch.
    »Weinen Sie nicht. Sie sind der Enkel? Pascha hat die Gebeine aus dem Keller ausgegraben, hat sie gewaschen, in ein Gewand gehüllt und nach Murom gebracht. Sie hat gesagt, sie werde die Einsiedelei suchen und sie dort begraben. Alexascha Grigorjew ist mitgefahren, allein hätte sie das nicht geschafft. Wir sind aus dem Haus da drüben, ganz am Ende. Pascha hat gesagt, wir sollen hier auf Sie warten. Also warten wir hier.«

Ende gut – alles gut
    Ende der siebziger Jahre tauchte eine neue Art von Ausländern auf, die ganz verrückt waren auf Russland. Nicht sehr viele, aber doch einige Dutzende. In Moskau und in Petersburg kannte man sie gut.
    Als erste kamen die kommunistischen Italiener. Dann diverse sonstige Schweden, Amerikaner und weitere Nationalitäten. Geködert wurden sie von Dostojewski und Tolstoi, Malewitsch und Chlebnikow – je nach Berufsinteresse. Die einen wie die anderen lockte die rätselhafte russische Seele – zärtlich und mutig, irrational und leidenschaftlich, mit einem Schuss erhabenen Wahnsinns und opferbereiter Grausamkeit.
    Sie schüttelten den bourgeoisen Staub von ihren makellosen italienischen Schuhen, verliebten sich in russische Schönheiten, die noch nicht vom Feminismus verdorben waren, überwanden zahllose Hindernisse, um sie zu heiraten, nahmen sie mit nach Rom, Stockholm, Paris und Brüssel und kehrten erneut zurück an den Arbat oder in eines der hässlichen Neubaugebiete am Moskauer Stadtrand wie Konkowo-Derewljowo. Diese Ausländer knüpften innige Freundschaften zu Russen, liebten deren Eltern und Kinder, brachten ihnen Bücher, Medikamente, Farben, Nuckel, Pelzmäntel und Zigaretten mit … Im Gegenzug bekamen sie rare Bildbände – Andrej Rubljows Ikonenmalerei und Dionysios’ Fresken –, schwarzen Kaviar und begeisterte, wenn auch nicht ganz uneigennützige Liebe.
    Pierre Sand hatte seinen Moskauer Freunden seit den Weltfestspielen 1957 per Post und über dritte zahlreiche Pakete geschickt: Jeans, Klöppelspitze, Schallplatten … Die Platten für Sanja, die Brüsseler Spitzenkragen für dessen Großmutter, Jeans für alle drei Freunde. So realisierte er teilweise seine Liebe zu dem Land, das seine Vorfahren verlassen hatten.
    Unter den ausländischen Russlandliebhabern nahm Pierre einen besonderen Platz ein: Er war Russe, wenngleich er von Baltendeutschen abstammte, und seine Sehnsucht nach Russland war existentiell und unheilbar. Ärgerlich fand Pierre, dass sein seltenes und kompliziertes Gefühl längst beschrieben worden war, sorgfältig aufgespießt und präpariert, nämlich dreißig Jahre zuvor von einem gewissen Sirin, und zum Beweis schickte er seinen Freunden Bücher dieses in Russland unbekannten Autors, der inzwischen sein Pseudonym durch seinen richtigen Namen ersetzt hatte.
    Genau wie Sirins Romanheld bestand auch Pierre eine Mutprobe – indem er Bücher eines kleinen Brüsseler Verlages nach Russland brachte. Überwiegend religiöse Texte. Das war sein gesellschaftliches Engagement, eine Art Freiwilligendienst.

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