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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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nach Hause. Ich gebe Ihnen ein Medikament, das muss ihm gespritzt werden.‹
    Schwester Alewtina begleitete ihn bis nach Murom, und nach anderthalb Tagen kehrte sie zurück. Sie hatte alles dabei – eine Spritze, Nadeln, Penizillin. Iwan hatte auch ein Huhn und Grieß mitgeschickt. Und Brot, das war für uns, ihm durften wir keins geben. Außerdem hat er gesagt, wir sollten ihm die Spritze und die Nadeln zurückbringen. Vielleicht, sagte der Doktor, kann die Kälte ihn retten. Unfug! Gott hat ihn gerettet, nicht die Kälte. Schwester Alewtina und ich, wir sind bei ihm geblieben, die anderen haben wir weggeschickt. Oje, das war zum Lachen. Wir haben das halbe Huhn gekocht, und die andere Hälfte hat uns ein Fuchs direkt aus der Hütte gestohlen – schwuppdiwupp! Zum Lachen und zum Weinen.
    Drei Tage war der Wladyka mehr tot als lebendig. Doch auf einmal schlägt er die Augen auf und sagt: ›Ich war schon auf dem Weg, aber nun soll ich doch bei euch bleiben.‹
    Dann ging es ihm immer besser, und er wurde ganz gesund.
    Im April haben wir ihn zu uns geholt. Er zog zu uns und brachte das Himmlische Paradies in unser Haus. Jeden Tag hielt er Gottesdienste ab. Im ersten Jahr ging er ein wenig hinaus – im Sommer, bei Nacht, den Himmel anschauen. Doch dann sperrte er sich in seinem Kämmerchen ein und kam nur zum Gottesdienst heraus. Der Altartisch war winzig. Und er sagte, ein Antimension 21) brauchen wir nicht, unsere ganze Erde ist getränkt mit dem Blut von Rechtgläubigen und Heiligen. Wo wir auch beten, wir stehen immer auf den Gebeinen von Märtyrern.
    21) In der orth. Kirche geweihtes Altartuch, in das Gebeine von Heiligen eingenäht sind. Anm. d. Ü.
    Den Gottesdienst hielt er nach den Klosterregeln ab. Oft hat er nächtelang gebetet, sich nicht schlafen gelegt. Doch gegen Ende schwollen seine Beine stark an, er konnte nicht mehr stehen, musste gestützt werden. Aber es kamen so viele Menschen zu ihm, gefahren und gelaufen.
    Oje, manchmal haben wir gezittert – wenn sie ihn nun schnappten! Aber er beruhigte mich immer: ›Sie schnappen mich nicht, Pascha. Ich bleibe auf immer und ewig bei euch.‹
    Acht Jahre hat er bei uns gelebt. 1964 ist der Wladyka von uns gegangen.«
    Pascha bekreuzigte sich. Ihr Gesicht strahlte wie vor Freude.
    »Wie alt war er denn da?«, fragte Kostja.
    »Neunzig war er. Vielleicht auch einundneunzig.«
    Da war ich schon geboren. Und Großmutter lebte noch. Er hätte bei uns leben können, bei seiner Familie. Kostja stellte sich den Bischof vor, in dunklem Priesterrock, mit einem Kreuz um den Hals – und daneben seine Großmutter Antonina. Tja, Väter und Söhne … Nein, unmöglich.
    Paschas Bericht war zu Ende. Es war nach ein Uhr nachts, doch noch immer war ihm nicht klar, warum sie eigentlich gekommen war.
    »Kostja, ich wäre ja gar nicht hergekommen, aber alle sagen, unsere ganze Straße soll abgerissen werden. Wir sollen Wohnungen bekommen. Aber was wird dann aus dem Grab? Er liegt doch unter unserem Haus! Wir müssen ihn umbetten. Ich sage zu den Unseren, graben wir die Gebeine aus und bringen sie in die Muromer Wälder, wo er sich versteckt hat. Aber die Unseren sagen, er soll kirchlich begraben werden, als Bischof, denn in der heutigen Zeit könne man so ein Papier bekommen. Damit getilgt wird, dass er im Gefängnis gesessen hat. Ich habe das Wort hier aufgeschrieben …« Sie kramte unter ihren Tüchern herum, zog ein dickes Zeitungspapierpäckchen hervor und daraus ein Papier, auf dem in Greisenschrift nur ein Wort stand: Rehabilitierung .
    Endlich begriff Kostja, was er tun sollte: Die Akte seines Urgroßvaters anfordern (vermutlich beim KGB, dachte er sofort) und sich eine Bescheinigung über dessen Rehabilitierung ausstellen lassen. Er versprach, sich darum zu kümmern. Er wolle versuchen, alles herauszufinden, und den Antrag stellen.
    Pascha kramte in ihrem Päckchen.
    »Hier ist noch ein Dokument von ihm. Die Unseren haben entschieden, dass du es bekommen sollst. Vielleicht fragen sie dort danach.« Sie zog ein dickes, vergilbtes Papier hervor – eine Bescheinigung über den Abschluss der Diözesenschule aus dem Jahr 1892 auf den Namen Naum Ignatjewitsch Dershawin …
    »Pascha, wer sind eigentlich ›die Unseren‹? Hatte er noch irgendwelche Verwandten?«, fragte Kostja am Ende.
    »Verwandte? Ein Sohn, er war Priester, wurde erschossen, die anderen, die sich von ihm losgesagt haben, sind auch schon tot, die Kleinen sind als Kinder gestorben, und seine Töchter –

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