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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Nur wenige Personen erwarteten den Flug aus New York, und Sanja und Eugene ignorierten einander geflissentlich.
    Das Flugzeug hatte eine Stunde Verspätung. Endlich kam die Meldung, es sei gelandet. Die Abholenden strömten zu dem heiligen Ort, wo sich gleich die Staatsgrenze öffnen würde und ausländische Bürger und einige wenige russische Fluggäste der Diplomaten- oder KGB-Gilde die enge Schleuse passieren würden.
    Sie waren zu früh herbeigeströmt – noch eine Stunde mussten sie warten, bis die Reisenden ihr Gepäck in Empfang genommen und die diversen Kontrollen durchlaufen hatten.
    Die sowjetischen Passagiere unterschieden sich von den amerikanischen in erster Linie durch die Anzahl der Koffer und den verschreckten Gesichtsausdruck. Die Amerikaner fielen durch höheren Wuchs, kindliche Neugier und durch ihre Kleidung auf. Obwohl – wenn man genau hinsah, trugen Amerikaner und sowjetische Staatsbeamte das Gleiche: die Männer in gehobener Position Tweedmäntel, die Bescheideneren Kapuzenanoraks und Dufflecoats. Beides in gedeckten Winterfarben. Doch die sowjetischen Bürger stellten diese Kleidung wie etwas Besonderes zur Schau.
    Inmitten dieser braven, vom langen Flug erschöpften Gruppe ein Farbklecks: Eine rote Zipfelmütze pendelte frech und aufgeregt über der Menge. Darunter – schwarz umrandete Augen, rote Wangen und grell geschminkte Lippen. Eine typische Matrjoschka, aber ausländischer Herkunft. Ein Detail für Kenner – sie trug einen luxuriösen Nerzmantel und Turnschuhe. In der Hand außer einer winzigen Damentasche eine riesige Sonnenblume. Als Erkennungszeichen.
    Aus der Gruppe der Wartenden löst sich ein blonder junger Mann in einer schwarzen Jacke. Aus der Jackentasche lugt eine Ohrenklappenmütze. Er geht auf die Sonnenblume zu, wie sich eine Sonnenblume dem Licht entgegenneigt. Er bleibt vor der Frau mit der roten Zipfelmütze stehen und streckt die Hand nach der Sonnenblume aus.
    »Debby! You are … I’m glad …
    Debby, die Braut, ist keineswegs eine Schönheit, aber ihr Lächeln strahlt festlich.
    »Sa-netschka! Ja tebja lublu! 22) «
    22) Nicht ganz akzentfreies Russisch: »Ich liebe dich!« Anm. d. Ü.
    Die Braut war dank Pierres Bemühungen ideal. Sie war Journalistin, eine Feministin und Skandalnudel, und als Aktivistin der amerikanischen Sektion der Internationalen Frauenliga hatte sie ein Jahr zuvor an einem vom sowjetischen Frauenkomitee organisierten Seminar in Moskau teilgenommen. Wo sie und Sanja sich angeblich kennengelernt und ein Verhältnis angefangen hatten. Eine tadellose Legende!
    Sie umarmen sich. Ein Klicken von der Seite – ein Fotokorrespondent einer progressiven amerikanischen Zeitung hält die Begegnung zwischen Debby O’Hara, einer progressiven Aktivistin der amerikanischen Frauenbewegung, und dem jungen Musikwissenschaftler fest. Debby nimmt Sanjas Wangen in ihre pummligen Hände und küsst ihn mitten auf den Mund. Seifiger Lippenstiftgeschmack. Sanja schlingt vorsichtig die Arme um ihren Hals. Sie ist einen halben Kopf größer und zwei Pud schwerer als er.
    Noch ein Kuss. Noch ein leises Klicken. Noch ein Kuss und noch ein Foto. Eugene Michaels geht fort – er hat das Seine getan. Zwei unauffällige graue Spitzel, die sich an verschiedenen Ecken des Saals unter die Menge gemischt haben, verständigen sich mit Blicken. Wie Schlafwandler treffen sie am Ausgang zusammen, flüstern miteinander und trennen sich wieder.
    Gezwitscher:
    »Du sprichst wunderbar Englisch!«
    »Du auch!«
    »Du bist so hübsch!«
    »Und du bist der Traum meines Lebens!«
    Braut und Bräutigam lachen laut. Sanja ist voller Lippenstift. Debby wischt mit einem weichen Taschentuch die blutroten Spuren ab.
    Sanja greift nach dem Koffer, sie stößt ihn sanft weg und verteidigt ihr Gepäck.
    »Ach, bist du rückständig, Sa-netsch-ka! Ich bin doch Feministin! Ich erlaube dir nicht, mir die Tür aufzuhalten und meine Koffer zu tragen, ich bin eine selbständige Frau!«
    Sanja schaut sie an, ein wenig von unten herauf.
    »Na, ich dachte nur, der Koffer ist schwer …«
    Sie hat bereits den stacheligen Pelz über ihren linken Arm geworfen und winkelt den rechten an.
    »Sieh dir meine Muskeln an! Ich trainiere Gewichtheben!«
    Sanja befühlt ihren entblößten Arm.
    »Debby! Du bist wirklich der Traum meines Lebens! Wenn ich müde bin, nimmst du mich einfach auf den Arm!«
    Wunderbares, flüssiges Englisch.
    »Oh! Du hast einen Fehler gemacht! To bring up by hand – to feed with

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